Zum Picknick im Grünen oder Hummer-Essen bei Meeresrauschen verlassen die Gäste des Restaurants Ultraviolet in Shanghai den Speisesaal nicht. Haubenkoch Paul Pairet serviert abendlich zehn Gästen 20 Gänge in jener Atmosphäre, die den Geschmack der einzelnen Speisen unterstreicht. Das Gericht Micro Fish no Chips wird im britischen Ambiente mit Projektionen von Regentropfen an den Wänden, dem Union Jack am Tisch und Beatles-Klängen serviert. Statt des Fast Foods kommt ein Gericht aus Kapern und Sardellen auf die Teller. Auch Beleuchtung, Klang, Temperatur und Geruch sind auf das Geschmackserlebnis ausgerichtet.
„Das Gehirn verbindet Sinneseindrücke, ohne dass wir das realisieren. Was ich sehe, beeinflusst, was ich höre, das wiederum, was ich fühle und letztlich schmecke und rieche“, erklärt Charles Spence, Professor für experimentelle Psychologie an der Universität Oxford.Geschmack ist mit Emotion, Erinnerung und Assoziationen verknüpft, vieles läuft unbewusst ab, was er in seinem Buch The Perfect Meal beschreibt. Schon der Name eines Gerichts weckt Erwartungen und bereits vor dem ersten Bissen fällt das Gehirn ein Urteil über den zu erwartenden Geschmack. Der Einfluss von Nase, Augen und Tastsinn ist erheblich, wie Studien zeigen: 90 % der Sinneseindrücke während eines Essens entstehen nicht auf der Zunge, sondern stammen von Geruchssignalen. Von roten Tellern isst man weniger und je schwerer das Besteck in der Hand liegt, desto höher erscheint die Speisequalität. Wie wichtig die Optik ist, zeigte sich bei einem Experiment, bei dem selbst Experten einen mit geschmacksneutraler roter Farbe versetzten Weißwein geschmacklich nicht zuordnen konnten.
KLINGENDE SPEISEN
Den Klang zählt Spence zu den vernachlässigten Schlüsselelementen, dabei können Geschmacksnoten beeinflusst werden. Wie der Wissenschaftler erforschte, unterstreichen hohe Töne süße Geschmacksnoten und tiefe Klänge bitteren Geschmack. Musik verleiht zudem Authentizität und bei klassischen Klängen zeigen sich Gäste spendabler, vorausgesetzt, das Ambiente ist stimmig. „Ich persönlich finde Musik im Restaurant angenehm, bis es gut gefüllt ist oder wenn es sich wieder leert“, betont der Münchner Sternekoch Alfons Schuhbeck.
In München ist er für seine Gourmet-Restaurants Schuhbecks und Orlando bekannt. Den Multisensorik-Trend sieht er kritisch, auch als eine Art Marketinginstrument. „Jeder Gastgeber möchte seinen Gästen eine für alle Sinne angenehme Atmosphäre bieten. Und die ist in der Spitzenküche eher dezent und zielt in Szenelokalen auf den Erlebniseffekt ab.“ Jeden Gang auf anderen Tellern, Schalen oder Schiefertafeln anzurichten sei nur sinnvoll, wenn es nicht nur für das Auge lohnt, „sondern das Geschmackserlebnis steigert“. Ähnlich hält es das vegetarische Haubenlokal Tian im 1. Wiener Bezirk. „Die Gesamtwahrnehmung der Speisen konstituiert sich aus Geschmack und Präsentation. Wir versuchen wiederkehrende Themen von Saison und Jahreszeit so zu spielen, dass wir Stammgäste immer wieder überraschen können“, betont Haubenkoch Paul Ivic.
GESCHULTER GESCHMACK
Doch was hat nun mehr Einfluss: die Speise oder das Drumherum? Diese Frage wird in der Multisensorik heiß diskutiert. Fakt ist, die Geschmackswahrnehmung verändert sich mit dem Alter, weshalb der Gaumen auch (nach)geschult werden kann. Das Unternehmen Sensorikum mit Standorten in Wien und Oberösterreich gibt Lebensmittelfirmen und Küchenchefs Einblick in Verkostungstechniken. Vermittelt werden ein objektiver Zugang zu Roh- und Aromastoffen und Wissen über ungewöhnliche Lebensmittelkombinationen.
Die Beschaffenheit von Speisen ist für den Geschmack zentral. „Oft schicken wir etwas zurück, weil Konsistenz oder Temperatur nicht passen. Das Mundgefühl entscheidet über Genuss und Ekel“, erklärt Sensorikum-Geschäftsführerin und Lebensmitteltechnologin Elisabeth Buchinger. Texturale Abwechslung, etwa Croutons in Cremesuppen oder Krokant in der Eiscreme, machen Speisen interessanter und bleiben in Erinnerung. Letztlich ist es das Zusammenspiel von Speise, Atmosphäre und Service, die jenen Erinnerungseffekt schafft, um den es in der multisensorischen Küche geht.