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CIUDAD DE MAÍZ
Aus kulinarischer Perspektive könnte man Mexico City auch „Stadt des Mais“ nennen. Denn das meistangebaute Getreide der Welt stammt aus Mexiko und ist für die Esskultur seiner Hauptstadt so wichtig wie keine andere Zutat. Was Streetfood-Stände und Kreativ-Küchen daraus machen, ist schlicht einzigartig.
Seit 2010 ist es offiziell: Die mexikanische Ur-Küche gehört für die UNESCO zum Weltkulturerbe. Sonst stehen auf dieser prestigeträchtigen Liste eher einzelne Speisen oder eine ganze Tischkultur wie die französische. Was aber macht gerade das große Spektrum an zig Regionalküchen von Oaxaca bis Chihuahua im Vergleich zu anderen Weltküchen so besonders? Es sind die regionalen Produkte. Vieles, was heute in jeder Profiküche selbstverständlich ist, kultivierten als Erste die Völker der Azteken, Mayas und Inkas: darunter Bohnen, Kakao, Vanille, Avocados, Tomaten und natürlich Chili. Davon gibt es unglaubliche 90 Sorten im Land, die die Basis für fast alle Salsas bilden. Außerdem hat man sich auf Chilischärfe als kleinsten gemeinsamen Nenner für die tausenden regional unterschiedlichen Mole-Saucen, -Pasten und Gewürzmischungen geeinigt, die auch als Eckpfeiler der genuin mexikanischen Geschmackswelt gelten.
Noch wichtiger ist nur der Mais. Die indigenen Einwohner Mexikos kannten die ursprünglich sehr kleinen Früchte des Urgetreides schon vor 7.000 Jahren. „Als die Erde noch menschenleer war, nahmen die Götter den Mais und formten aus ihm den Menschen“, steht beispielsweise im Popol Vuh, dem heiligen Buch der Mayas. Der Göttergabe verdankten sie außerdem ihre Hochkultur. Denn nur durch den üppigen Ertrag ihrer Neuzüchtungen konnten größere Menschenansammlungen ernährt werden und sich die ersten Großstädte des amerikanischen Kontinents bilden.
Tamales wie von Mama
Heute, viele Jahrhunderte später, beziehen sich immer mehr Köche in den belebten Straßen der 20 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt bewusst auf diese lange Tradition. Die junge Regina Velasco zum Beispiel, die ihr Lokal Tamales Madre in der Calle Liverpool im zentral gelegenen Viertel Colonia Juárez ganz den Tamales gewidmet hat. Für diese Speise aus präkolumbianischer Zeit werden verschiedene Zutaten in eine Art Mais-
teig, den Masa, gepackt und in einem Bananenblatt-Päckchen in einem großen Topf gedämpft. Beim sehr beliebten „Tamal de Mole y Plátano Macho“ ist es etwa ein Püree aus Kochbananen und etwas Mole Oaxaca, die beim Servieren um eine weitere Mole-Variante ergänzt wird – je nach Verfügbarkeit und Gusto. Entscheidend für das Gericht ist laut Regina aber immer die Qualität des Maíz. „Tamales Madre verstehe ich als Projekt, die Vielfalt der Maissorten in Mexiko zu bewahren“, erklärt sie: „Es gibt über 64 davon, aber sie verschwinden zusehends, weil die Industrie sich nur auf einige wenige konzentriert. Dabei ist Maíz die Sprache der mexikanischen Küche. Er ist nicht nur in vielen Gerichten präsent, er ist Teil davon, wer wir sind. Wenn Mexikaner über Maíz sprechen, reden sie auch über Familie, unsere Traditionen und die Herausforderungen in unserer Geschichte“, ist die junge Gastronomin überzeugt.
Die Bedeutung dieser Aussage können die meisten Touristen erst bei einer Streetfood-Tour durch das über mehrere Viertel hinweg ausufernde Zentrum der Stadt richtig fassen. Denn in den tausenden winzigen Läden und Standeln mit ihren in speckig glänzende Plastikplanen gekleideten Tischchen ist die Tortilla in ihren zig Erscheinungsformen ein fixer Bestandteil jedes Gerichts. Das dünne Fladenbrot wird in Mexiko bereits seit 1.500 vor Christus in einem aufwändigen Prozess gebacken. Dafür werden die Maiskörner zuerst in einer alkalischen Kalkwasserlösung gekocht. Diese „Nixtamalsation“ macht das enthaltene Niacin (Vitamin B3) für den Körper verfügbar und verbessert außerdem Geschmack und Backeigenschaften. Dabei löst sich auch die Schale, sodass der Mais gemahlen und erneut gekocht werden kann. Aus der entstehenden Masse wird anschließend ein Teig geknetet, der in einer flachen Pfanne gebacken wird. Die fertigen Tortillas sind unverzichtbare Grundlage von Speisenklassikern wie Enchiladas (mit Mole übergossen), Quesadillas (mit Käsefüllung) oder dem wohl bekanntesten mexikanischen Streetfood: Tacos.
TaquerÍa total
Taquerías nennen die Einheimischen Lokale für den schnellen Hunger zwischendurch. Für Natalia de la Rosa vom Touranbieter Club Tengo Hambre gehört das Los Cocuyos einige Gehminuten vom zentralen Palacio de Bellas Artes zu einem der Orte, wo Touristen am besten ein Gefühl dafür bekommen, was eine echte Taquería ausmacht. „Mexico City hat eine wirklich sehr ausgeprägte Taco-Kultur“, meint die Streetfood- und Mezcal-Spezialistin. „Nicht nur die Vielfalt der Füllungen ist für mich interessant, sondern auch dass man anhand der unterschiedlichen Tacos sehen kann, wie stark die spanischen Eroberer und andere Kulturen Einfluss auf die mexikanische Küche genommen haben.“
Klassiker Carnitas
Das Los Cocuyos serviert beispielsweise ausschließlich Rindfleisch in mit Kochfett bestrichenen Maistortillas. Dazu gibt´s Zwiebeln, Koriander, Guacamole, verschiedene Salsas und ein paar Spritzer Limettensaft. „Die Küche der Mayas war eher vegetarisch geprägt. Rind- und Schweinefleisch sowie Schmalz gibt es in Südamerika erst seit der Eroberung durch die Spanier“, klärt Natalia auf. „Heute spielt beides aber eine ganz wesentliche Rolle in unseren Küchen – zum Beispiel bei den Carnitas.“
Carnitas sind ursprünglich ein Gericht aus dem Bundesstaat Michoacán. Dafür werden die Einzelteile eines ganzen Schweines oder Rinds in einem riesigen, dickwandigen Reindl für mehrere Stunden bei niedriger Hitze in Schmalz konfiert, bis sie so mürb sind, dass sie von selbst zerfallen. Im Los Cocuyos fischen die Köche die vom Gast gewünschten Teile dann aus dem überdimensionierten Topf und hacken sie auf einem hölzernen Hackstock mit einem großen Beil klein, bevor sie in die Tacos wandern. Natürlich kann man beim Bestellen auf Nummer sicher gehen und sich für die Rinderbrust (Brisket) entscheiden. Wer mutiger ist, sollte aber beispielsweise die Variante mit Mollejas wählen, also Kalbsbries. Besonders bekannt sei der Stand in der Calle de Bolívar allerdings für seine „Tacos de Tripa con Chorizo“, meint Natalia. „Das sind Kutteln, die zusammen mit einer Chorizo weich gekocht werden und dadurch das rauchig-würzige Wurst-Aroma annehmen.“ Vor dem Hacken werden sie noch für etwas Knusper kurz in einer Bratpfanne angebraten.
„RIND- UND SCHWEINEFLEISCH KENNT DIE KÜCHE MEXIKOS ERST SEIT DEN SPANIERN.“ (NATALIA DE LA ROSA, TOURGUIDE, CLUB TENGO HAMBRE, MEXICO CITY)
Maya Barbecue
Weniger Überwindung kostet danach ein Besuch in der hippen Taquería Orinoco im Ausgehviertel Roma Norte. Vorwiegend junges Publikum sitzt hier auf knallroten Coca-Cola-Klappstühlen vor weiß gekachelten Wänden mit Aufschriften, die in überdimensional großen Lettern das beste Fleisch und die beste Salsa der Stadt anpreisen. Die schmale Karte lässt lediglich die Wahl zwischen „Bistek“-, „Al Pastor“- und „Chicarron“-
Tacos. Letzteres meint frittierten Saumagen oder Schweineschwarte und ist ein Hang-over-Klassiker. Die meisten Gäste kommen aber für die Al-Pastor-Tacos ins Orinoco. Diese Zubereitungsart kam ursprünglich mit libanesischen Einwanderern ins Land. Ähnlich dem Shawarma werden dafür äußerst würzig marinierte Schweine- oder Rindfleischstücke auf einem großen Spieß angebracht, der sich aufrecht vor einem Grill dreht. Die fertig gebratene äußere Schicht schneidet der Cocinero mit einer Machete direkt in den Taco. Garniert wird wieder mit etwas Koriander, Zwiebeln, Ananas oder Avocado und natürlich gibt´s noch Salsa Roja oder Verde obendrauf. Sehr klassisch.
Nicht weit vom Orinoco, ebenfalls in Roma Norte, kann man einmal die Woche eine weitere typische Spezialität kosten: „Barbacoa gibt es hier in Mexico City nur an den Wochenenden“, erklärt Natalia: „Das Fleisch dafür wird meist am Land vorbereitet und dann in die Stadtlokale geliefert. Das Los Tres Reyes oder das El Hidalguense in der Campeche 155 sind gute Beispiele dafür.“ Die begrenzten Öffnungszeiten der Restaurants, die diese Urform des US-Barbecues anbieten, hängen mit der sehr aufwändigen Zubereitung zusammen. Das Fleisch von Schafen oder Ziegen wird dafür mariniert, mit Salz eingerieben und dann in die Blätter einer speziellen Agaven-Art (Maguey) eingewickelt. Die Päckchen garen anschließend auf heißen Steinen über Nacht unter der Erde. Diese Technik verwendeten schon die mexikanischen Ureinwohner der Bundesstaaten in Zentralmexiko etwa. Das El Hidalguese bezieht sein Fleisch jede Woche frisch aus der Provinz Hidalgo. Ganze Familien treffen sich in dem fast schon kitschig traditionellen Lokal und bestellen das Fleisch ausschließlich kiloweise. Warme Tortillias, Salsas und all die anderen Zutaten dürfen bei den stundenlangen Gemeinschaftsgelagen natürlich auch nicht fehlen.
Aufbruch in die Kochmoderne
Also stimmt das Vorurteil, dass die mexikanische Küche fett und fleischlastig ist? Keineswegs! Erstens gibt es dank Zugang zum Pazifik und zum Golf von Mexiko auch ganz hervorragendes Seafood. Das „Agua Chile“ im Mi Compa Chava ist ein Beispiel dafür. Für dieses ursprünglich aus Sinaloa stammende Gericht werden, wie beim Ceviche, rohe Shrimps in Chili-Limettensaft gegart und mit Gurken und Zwiebelstückchen serviert. Sehr einfach, aber auch sehr geschmacksintensiv. Mit dem Contramar und dem La Docena gibt es dafür auch feinere Adressen. Im Contramar sind etwa Tostadas, eine knusprige Tortillas-Variante, mit Marlin eines der Signature Dishes.
Daneben arbeiten viele, meist in den USA ausgebildete, mexikanische Topköche seit der Jahrtausendwende unermüdlich an ihrer Version einer zeitgemäßen, verträglicheren mexikanischen Kulinarik. Elena Reygadas etwa, die in ihrem Rosetta schon länger ganz auf Fleisch verzichtet und mittlerweile mit dem Salon Rosetta und einer französischen Bäckerei ein kleines Restaurant-Imperium geschaffen hat. Oder Atzin Santos mit seinem Taco-Tasting-Menü im Limosneros.
Einer der spannendsten Vertreter der neuen Generation ist Jorge Vallejo vom Quintonil, der sein Team genuin mexikanisches Fine Dining zelebrieren lässt. Etwa mit „Aguacate Tatemado, Quelites Chips e Escamoles“. Dabei trifft geflämmte Avocado auf knusprige Gemüsechips und die cremig-fettige Konsistenz der Escamoles. Das sind die Larven und Puppen einer Ameisenart, die aus den Wurzeln der Agaven für die Mezcal und Tequila-Herstellung geerntet werden. Mit ihrem nussig-buttrigen Geschmack gelten sie vor allem in Mexico City schon lange als Delikatesse.
„FRÜHER GAB ES WENIG SPIELRAUM FÜR KREATIVITÄT. DAS HAT SICH DRASTISCH GEÄNDERT. “ (ENRIQUE OLVERA, KOCH & EIGENTÜMER, PUJOL, MEXICO CITY)
Visionär Olvera
Viel abgeschaut hat sich Vallejo bei dieser Herangehensweise an seine Gerichte natürlich von Vorreiter Enrique Olvera. Der mittlerweile 47-Jährige ist seit Eröffnung des Pujol 1999 so erfolgreich, dass er mit dem Cosme sogar parallel ein mexikanisches Spitzenrestaurant in New York betreiben kann. Bereits mehrfach waren seine Betriebe für die innovative Neuinterpretation klassischer mexikanischer Rezepte und Zutaten unter den „50 Best Restaurants“. Eines seiner weithin bekannten Signatures ist der zart gegarte Babymais. Er kommt in einem traditionellen Tontopf an den Tisch, auf dessen Boden sich ein Klecks Mayonnaise aus Chicatanas-Ameisen befindet. Diese Konzentration auf wenige Komponenten und starke Geschmackserlebnisse findet sich auch bei seiner Tortilla aus Blattpfeffer, deren würzige Anisaromen nur um Aubergine und Kichererbsen ergänzt werden. Oder beim Wolfsbarsch: Dessen Filet wird mit Cacahuazintle-Saft angegossen, der aus einem besonders zarten, schneeweißen Mais gewonnen wird. Dazu gibt es nur noch ein paar Selleriestückchen.
Wie sieht Olvera vor dem Hintergrund solcher Kreationen selbst seinen Beitrag im Kontext der mexikanischen Küche? „Unsere Küche war auf der Straße zu Hause, auf Märkten, in kleinen Fondas. Der Sprung in die Gourmetküche kam erst vor Kurzem. Darüber bin ich sehr glücklich“, meint er und ergänzt: „Früher galt in Mexiko: Ein guter Koch, ein Cocinero, ist ein guter Machetero, ein Typ mit der Machete. Ein Kochsoldat, der weiß, wie man ein Rezept zubereitet. Kochen war nicht mehr als Reproduktion. Es gab keinen Spielraum für Kreativität. Das hat sich drastisch verändert. Recherche ist heute ein großer Teil des Kochens geworden.“
Zum Glück gibt es in dem riesigen Land mit seiner langen kulinarischen Geschichte dabei noch viel zu entdecken.
3 Konzepte
Mexico City, Mi Amor
Máximo Bistrot
Immigrantenküche
Die Geschichte von Eduardo García und seinem Máximo Bistrot ist ein schönes Beispiel dafür, welch großen Einfluss Erfahrungen in den USA auf die Entwicklung der Fine-Dining-Szene in Mexiko genommen haben. Denn García lebte lange als illegaler Wanderarbeiter auf den Feldern des unmittelbaren Nachbarn. Eher durch Zufall wurde er Küchengehilfe und sein damaliger Chef erkannte sein Talent. Am Ende dieser irren Reise stand ein Engagement bei Starkoch Eric Rippert in der Brasserie Le Coze. Die französischen Techniken, die er dort lernte, überträgt der ehemalige Immigrant heute auf Produkte, die er aus der direkten Umgebung der mexikanischen Hauptstadt bezieht. Damit ist er einer der Vorreiter der Farm-to-Table-Cuisine in Mexiko und wird dafür von Gästen und Kollegen zu Recht abgefeiert.
La Rifa Chocolatería
Single-Origin-Kakao
Wer den besten Kakao seines Lebens trinken möchte, sollte das Lokal von Reza and Monica Ortiz Lozano im Viertel Juárez besuchen. Die beiden beziehen Kakaobohnen direkt von Farmern in den schon von Mayas und Azteken genutzten Anbaugebieten in Chiapas und Tabasco. Zu Schokolade und Kakao verarbeitet werden sie direkt in der eigenen Produktionsküche. Beim Bestellen teilen die Bedienungen gern ihr Wissen zum Einfluss von Klima und Anbaubedingungen sowie ob die Bohnen für bestimmte Sorten nur gewaschen oder auch fermentiert wurden. Von „dulce“ bis „amargo“ stehen darüber hinaus alle Süßegrade zur Wahl und man kann entscheiden, ob der Kakao mit Wasser, (Mandel-)Milch oder einer Infusion aus Zimt, Honig und einem Chili-Mix aufgekocht wird.
Cariñnito Tacos
Taquería Asiatico
Roma Norte ist wohl eines der angesagtesten Viertel der mexikanischen Hauptstadt. Ideal für ein Konzept wie Cariñito Tacos, dessen Betreiber sich trauen, in Handarbeit hergestellte Tortillas bis zum Bersten mit südostasiatischen Aromen zu füllen. Es gibt zwar nur fünf Taco-Optionen, aber die haben es in sich. Für den „Isaan Taco“ wird etwa knuspriger Schweinebauch mit Soyasauce, Reispuder, Schweineschwarte und Minze in die Maisflade gepackt. Beim „Kantonese Style“ bekommt der Porkbelly dagegen Hoisin-Sauce, selbstgemachte, thailändische Sriracha-Chili-Sauce und eingelegtes Gemüse als kongeniale Partner. Dazu gibt´s natürlich unzählige Toppings, wie Sesamsamen oder Jungzwiebeln. Die CDMX-Hipster lieben es und stehen abends in langen Schlangen vor der bunt bemalten Budel.
Interview
„MaÍz ist, wer wir sind.“
Regina Velasco startete 2019 ihr Projekt Tamales Madre in Mexico City. FRISCH erzählt sie, was so speziell an Tamales ist und warum sie sich der Bewahrung der Artenvielfalt beim Mais verschrieben hat.
Du bist ursprünglich keine Köchin, Regina. Warum hast du Tamales Madre eröffnet?
Ich war frustriert von meinem Job und wollte meine Freude am Kochen und daran, Gastgeberin zu sein, zum Beruf machen. Dahinter steht aber ganz klar meine große Liebe zur echten mexikanischen Küche und das Interesse für die Maíz-Kultur ganz speziell.
Deswegen auch der Fokus auf Tamales? Was ist so besonders daran?
Tamales sind ein ikonisches präkolumbianisches Gericht. Sie sind für Mexikaner einfaches Straßenessen und rituelle Speise zugleich. Und das schon bevor Mexikaner überhaupt zu Mexikanern wurden. Die Traditionen der Zubereitung sind so vielfältig, dass jeder der 31 Bundesstaaten seine eigenen Rezepte und Besonderheiten hat. Dieser kulturelle Reichtum geht allerdings zusehends verloren, weil es an den Streetfood Ständen in Mexico City nur noch zwei oder drei Tamales-Varianten gibt.
Gibt es ein Geheimnis für die Zubereitung?
Für Tamales werden verschiedene Zutaten in einen Maisteig, den Masa, eigearbeitet und dann mit einem Bananenblatt umwickelt gedämpft. Essenziell für Geschmack und Konsistenz ist dabei der traditionell angebaute, einheimische Maíz. Er ist die Seele des Gerichts. Nur wenn er richtig verarbeitet wird, entsteht daraus eine wirklich einzigartige Tamal. Deswegen kaufen wir Maíz aus vielen Regionen und verarbeiten ihn in einem Prozess, der sich Nixtamalisation nennt, direkt in unserer eigenen Küche zu Masa.
Wie viele verschiedene Sorten Maíz gibt es denn?
Es gibt über 64 davon, aber sie verschwinden zusehends, weil die Industrie sich nur auf einige wenige konzentriert. Dabei ist Maíz die Sprache der mexikanischen Küche. Er ist nicht nur in vielen Gerichten präsent, er ist Teil davon, wer wir sind. Wenn Mexikaner über Maíz sprechen, reden sie auch über Familie, unsere Traditionen und die Herausforderungen in unserer Geschichte. Tamales Madre verstehe ich deshalb als Projekt, die Vielfalt der Maissorten in Mexiko zu bewahren.
Wie gelingt es dir mit diesem Konzept im harten Restaurantmarkt von Mexico City zu bestehen?
Unser Lokal ist winzig klein. Wenn du bei uns isst, sitzt du quasi direkt in der Küche. Dadurch haben wir eine ganz andere Beziehung zu unseren Gästen aufbauen können. Das hat uns vor allem während Corona geholfen, zu überleben. Aktuell explodiert die Gastroszene hier aber wieder und bekommt durch die Aufhebung der Maßnahmen einen neuen Schub. Die Touristen und Foodies sind zurück und haben großes Interesse an authentischer mexikanischer Küche. Auch davon profitieren wir sehr.
In den Vereinigten Staaten gibt es mittlerweile schon viele Restaurants mit authentisch mexikanischer Küche. Glaubst du, dass das auch in Europa gelingen kann?
Ganz sicher sogar. Ich glaube, dass die Aromen der mexikanischen Küche die Power haben, die ganze Welt zu erobern!
Aber wäre es nicht ein Problem, die Zutaten nach Europa zu bringen?
Natürlich ist das für Gastronome in den Vereinigten Staaten einfacher, weil sie unser direkter Nachbar sind. Aber ich war gerade in Kopenhagen und habe dort mitbekommen, dass es gar nicht so schwer ist, Trockenprodukte nach Europa zu verschiffen. Die hatten dort „Chile mixe“ direkt aus den Sierras in Oaxaca! Ich war echt überrascht. Bis es mehr richtig gutes mexikanisches Essen in Europa gibt, ist es also nur eine Frage der Zeit, denke ich.
Regina, vielen Dank für das
Gespräch!
Regina Velasco
Regina Velasco hat 2018 ihren Job im Bereich Stadtplanung und Öffentlichkeitsarbeit aufgegeben, um Tamales Madre zu gründen. Seitdem konzentriert sie sich mit ihrem Projekt darauf, unterschiedlichste Maissorten aus allen mexikanischen Bundesstaaten bekannter zu machen und regionale Tamales-Rezepte zu sammeln. Aktuell nimmt sie am Ausbildungsprogramm MAD teil, das von René Redzepi gegründet wurde, um Nachhaltigkeit in der Gastronomie zu fördern.