Lokalrunde

Couture Cuisine

Michael Reis führt mit dem Johanns in Waldkirchen ein sternelokal am Dach eines sehr beliebten Modehauses. Eine Win-Win-Situation für Handel und Gastronomie.

Schon während meiner Ausbildung zum Koch war mir klar, dass ich wissen möchte, wo in diesem Beruf die Messlatte liegt“, erzählt Michael Simon Reis, seit zehn Jahren Küchenchef des Johanns im bayerischen Waldkirchen. Gleich nach Abschluss seiner Lehre wagte er den Sprung in die Spitzengastronomie und sammelte Erfahrungen bei Johanna Maier in Filzmoos, im Steirereck in Wien, im Tristan auf Mallorca und sogar im Arzak in San Sebastián. Inspiriert von so viel kulinarischer Weltklasse brachte Reis mit dem Johanns die Hochküche trotzdem lieber in seine Heimatgemeinde, als ihr weiter über den halben Erdball nachzujagen. Dabei konnte er vom Start weg kulinarisch so überzeugen, dass ihm der Guide Michelin bereits im ersten Jahr einen Stern verlieh.

Die anfangs noch völlig unerwartete Auszeichnung freute auch Familie Huber, Besitzer des Johanns. Am Marktplatz von Waldkirchen führt heute die vierte Generation das seit 1896 bestehende Modehaus Garhammer, auf dessen Dach das Gourmetlokal von Michael Simon Reis in den Himmel strahlt. Der lang anhaltende Erfolg des Geschäfts der Hubers baut auf Weitblick, Innovationsfreude und die richtigen Strategien. „Die Familie wollte einen zusätzlichen Grund schaffen, Kunden – auch von weit her – in ihr Modehaus zu locken", erklärt Reis die Beweggründe der Brüder Christoph und Johannes Huber für ihre Affäre mit der Spitzengastronomie. „Der stationäre Handel muss heute ein Gesamterlebnis bieten, sonst verliert er angesichts der Konkurrenz im Internet. Das Restaurant mit seinem kreativen, qualitätsorientierten Fokus ergänzt das hochwertige Angebot und die dienstleistungsorientierte Arbeitsweise des Modehauses sehr stimmig. Dieser Mix hat für mich auch den Reiz ausgemacht, hier tätig zu werden“, schildert der Küchenchef.  Also war er von der ersten Stunde an dabei, als 2013 im Zuge einer Erweiterung des Hauses um 10.000 m² Verkaufsfläche auch Restaurant und Küche völlig neu geplant und gestaltet wurden.

Clevere Symbiose

Heute profitieren Restaurant und Retail wechselseitig voneinander. Manche Gäste kommen wegen  einem Restaurantbesuch und werden Kunden, und viele Kunden gehen nach dem Shopping noch auf eine Kleinigkeit oder ein gutes Glas. Den Schritt in den kulinarischen Sternehimmel erleichtert Reis deshalb mit einem preislich attraktiven Mittagsmenü. Das Modehaus ist ein Magnet. Davon profitieren wir sehr. An Spitzentagen kommen zwischen 2.000 und 3.000 Menschen zu Besuch, wenn da nur ein kleiner Prozentsatz zu uns kommt, sind wir voll“, meint Reis und ergänzt: „Wir könnten unsere kompletten Tische oft vier- bis fünfmal besetzen, doch das widerspräche unserem hohen Qualitätsanspruch.“

„DAS MODEHAUS IST EIN MAGNET. DAVON PROFITIEREN WIR SEHR.“ (MCHAEL SIMON REIS, KÜCHENCHEF & GASTRONOM, JOHANNS, WALDKIRCHEN)

Willkommene Überraschung

Dass sich das Johanns so entwickelt hat und verlässlich jedes Jahr mit einem Stern dekoriert wird, belohnt auch den Mut zu Beginn: „Die Lage in einer bäuerlich geprägten Region, alles neu, nichts vorherseh-, plan- oder kalkulierbar, keine Stammkunden und kein annähernd vergleichbares Angebot im ganzen Bayerwald – du fängst bei null an“, fasst Reis die damalige Ausgangslage stakkatoartig zusammen. Auch die Sorge vor durch den Stern neu entstehenden Hemmschwellen in der Bevölkerung legte sich bald: „Es hatte sich trotz Auszeichnung weder etwas an unserer Art zu kochen noch an der preislichen Gestaltung geändert“, nennt der Sternekoch den Grund für die gleichbleibend hohen Gästezahlen. Der Stern sei lediglich kulinarisch die Bestätigung für den eingeschlagenen Weg gewesen: „Wir wollen den unverwechselbaren Geschmack der regionalen Küche mit unseren innovativen Gerichten spürbar machen“, bringt der Küchenchef dieses einmalige Konzept auf den Punkt. Für ihn sind die typischen Speisen des Bayerwaldes nämlich nur vordergründig einfach und die bäuerlich produzierten Lebensmittel in ihrem kulinarischen Wert weit unterschätzt: „Den Geschmack des Bayerwaldes macht das Zusammenspiel aus erdigen, getreidigen, essigsauren und fruchtsüßen Noten aus. Das hat große Raffinesse“, ist er überzeugt und interpretiert diese traditionelle Aromatik ganz zeitgemäß mit Frische und Leichtigkeit – aber nie mit Scheuklappen. Gern verwendet der einheimische Spitzenkoch etwa japanische oder koreanische Würzsaucen oder exotische Früchte. Allerdings bleibt derartiges geschmacklich immer im Hintergrund und dient lediglich als pfiffige Draufgabe. „Einen Salzwasserfisch wird es nie auf unserer Karte geben“, betont Reis und formuliert sein kulinarisches Ziel so: „Unsere Gäste sehen ein ungewöhnlich modernes Gericht, erkennen beim Genießen aber schnell den gut bekannten Geschmack – das sorgt immer wieder für positive Überraschungen.“ Regionalität ist im Johanns also nicht bloß schönes Storytelling. Bestes Beispiel dafür: die Sulz vom selbst gepökelten Wollschwein aus einem wenige Kilometer entfernten Zuchtbetrieb. Sie wird mit einer Liebstöckl-Meerrettich-Kümmel-Senfmischung garniert. Dazu gibt es geschmortes Gemüse vom Bierrettich mit Pfefferoni und eingelegten Zwiebeln sowie ein hausgemachtes Laugen-Brioche mit Hendl-Leberpastete. „Kommt sehr modern daher, ist im Mund aber der typische Brotzeit-Geschmack“, schwärmt Reis. Oder: Sanft gegarter Bayerwald-Stör von fast japanisch anmutender Fleischqualität wahlweise mit jungem Rettich, Tamarinden-Nussbutter und knusprigen Physalis. Oder mit Ofenlauch, gebackenen Kerbelwurzeln, Avocado, Buddhas-Hand-Zitrone & geräucherter Erdäpfel-Molke. So geht Haute Cuisine dans la Bayerwald.

Die Zutaten dafür kommen von Qualitätspartnern wie KRÖSWANG und einem Netzwerk lokaler Kleinproduzenten.  „Dafür musste ich anfangs viel Beziehungs- und Überzeugungsarbeit leisten“, erzählt Reis. Der Einsatz habe sich aber gelohnt: „Ich sehe in der Zusammenarbeit mit lokalen Lieferanten auch einen größeren Sinn meiner Arbeit. Das ist Regionalität in einem größeren Kontext. Sie trägt dazu bei, regionale Strukturen zu fördern und damit die Wertschöpfung in der Region zu halten“, ist er überzeugt.

Asset Bodenständigkeit

Diese Herangehensweise erdet seinen speziellen Fine-Dining-Ansatz zudem. Von Abgehobenheit ist keine Spur. Ganz im Gegenteil: „Natürlichkeit und Bodenständigkeit sind uns wichtig, arrogante Anflüge oder steifes Ambiente haben bei uns keinen Platz“, betont deshalb auch Restaurantleiterin Denise Ebertshäuser: „Viele Menschen kommen hier das erste Mal mit dieser Art von Gastronomie in Berührung“, meint die Sommelière und sieht ihre Arbeit aus diesem Grund auch als stetige Überzeugungsarbeit. Das Elitäre und Pompöse, mit dem viele Gäste die Spitzengastronomie  in Verbindung bringen, ist für Michael Simon Reis sowieso längst nicht mehr zeitgemäß: „Es hat ein dramatischer Wandel stattgefunden. Die Spitzengastronomie ist zugänglicher und das Publikum jünger und familiärer geworden. Darauf muss man als Gastronom reagieren.“ Signalwirkung für die regionale Bevölkerung hatte diesbezüglich auch Reis’ Tun während der Corona-Zeit, als der Sternekoch höchstpersönlich in der eigenen Street-Food-Hütte vor dem Haus Würstel und Burger verkaufte. Den Einheimischen hat das imponiert: „Zu zeigen, dass ich mir dafür nicht zu schade bin, hat uns große Akzeptanz gebracht. Danach sind die Reservierungszahlen explodiert.“ Eine Situation, die sich viele andere Sternelokale nur wünschen können.

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