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Endstation Aufbruch

Bis zur Jahrtausendwende war Medellín am Ende. Kein Tourist traute sich mehr in die in Verruf geratene Stadt des ewigen Frühlings. Doch dann ließ der Bürgermeister Seilbahnen und eine Freiluft-Rolltreppe errichten und beflügelte damit Tourismus wie Gastronomie.

Entfernt erzeugt dieses Fahrgefühl paradoxerweise Erinnerungen ans Schifahren: Wer sich einer der beliebten Touren durch die engen Gassen im Armenviertel San Javier anschließen möchte, kann für umgerechnet 70 Cent mit einer der sechs kommunalen Seilbahn-Linien vom Zentrum Medellíns die Hänge des Aburrá-Tals in den Anden hinaufschweben.

Durch die blank geputzten Fenster fällt der Blick dabei auf die rohen, roten Backsteinschluchten des einst gefährlichsten Viertels der viel zu lange berüchtigten Kartellhochburg. In der Comuna 13 tobten die Bandenkriege der 80er und 90er am wüstesten und ruinierten das Image Medellíns. Lange wollte niemand der „Mörderhauptstadt“ einen Besuch abstatten. Und das, obwohl sie mit einem Klima gesegnet ist, das die Temperaturen das ganze Jahr hindurch nie unter 16 Grad fallen und selten über 30 Grad steigen lässt. „Capital de la Eterna Primavera“, die Stadt des ewigen Frühlings nennen sie die Medellinenses deshalb.

Aufschwung mit Seilbahn

Dass Lebenslust und buntes Treiben auf den Straßen heute auch in den Problemvierteln ein Comeback feiern, ist dem Weitblick des Mathematikers und ehemaligen Bürgermeisters Sergio Fajardo Valderrama zu verdanken. Er erkannte die Bedeutung des kommunalen Verkehrsnetzes, um den Unterprivilegierten in den Armenvierteln neue Perspektiven zu eröffnen. Lange mussten die rund 12.000 BewohnerInnen der Comuna 13 einen Höhenunterschied von 28 Stockwerken auf Betontreppen überwinden, um in andere Teile der Stadt und wieder zurück zu kommen. Der Bau der Seilbahnen und einer riesigen Freiluft-Rolltreppe änderte das. Vor allem die Rolltreppe der deutschen Firma Schindler ist seit 2011 ein viel gepostetes Social-Media-Wahrzeichen Medellíns. Auf 384 Metern gleitet man in sechs Minuten den Hang hinauf und sieht dabei die riesigen Wandmalereien und Graffitis, die von der bewegten Geschichte Medellíns und des Stadtviertels erzählen.

Tourguides wie der Englischlehrer German Castro haben heute reichlich zu tun, den Touristen die schönsten davon zu zeigen und ihnen den rauen Charme der ehemaligen Gangsterhochburg näher zu bringen. „Das Transportsystem hat neues Vertrauen gegeben. Plötzlich wurde den Bewohnern der Stadt klar, dass sich auch hier die Dinge ändern können. Es war der Startschuss zu einer sozialen Revolution in Medellín“, erklärt er.

Auf dieser Grundlage aufbauend haben Medellíns Gastronomen ab Mitte der 2000er wesentlich dazu beigetragen, einen veritablen Tourismus-Boom zu starten. Kolumbien ist neben Peru eines der Länder mit der größten Biodiversität der Welt. Diesen Produktreichtum zwischen Karibik, Pazifik, Amazonas und Andengipfeln spiegeln selbst die Streetfoodstände wider, die um die besten Plätze rund um die Rolltreppe konkurrieren. Dort gibt es nicht nur perfekt frittierte Patacones, die heimischen Kochbananen, für die die noch grünen Früchte in Scheiben geschnitten, von beiden Seiten frittiert, anschließend flach gedrückt und dann noch ein zweites Mal frittiert werden. Sondern auch Arepas, runde Maisfladen, die ausgebacken mit Butter und Käse genauso direkt in den Mund wandern wie Buñuelos, frittierte Bällchen mit Costeño-Käse-Füllung.

Früchteparadies

Für Europäer weit spannender als diese fettigen Snacks sind die Stände mit Früchten, frisch gepressten Säften, Smoothies und Shaved Ice, das mit allerlei Obstgeschmäckern verfeinert wird. „Es gibt nur wenige Länder weltweit, in denen du mehr tropische Früchte findest als in Kolumbien“, erklärt dazu Nina Soentgerath, die für ihren Blog „reisehappen“ schon öfter in Kolumbien unterwegs war. Fast 500 verschiedene Früchte sollen es sein, meint die Nürnbergerin. Dazu gehören Klassiker wie Kokosnüsse, Kapstachelbeeren, Drachenfrüchte, Bananen, Mangos, Guaven oder Maracujas in allerbester Qualität. Aber auch bei uns völlig unbekannte Vertreter wie Granadilla, Mamoncillo, die Andenbeere Mora oder die Lulo, aus der man mit zerstoßenem Mais, Melasse aus Zuckerrohrsaft sowie Nelken, Zimt und den Blüten des Orangenbaumes das Getränk Champús herstellt.

Touristen, die sich an einem der Stände mit Exotischem versorgen, werden dabei oft Zeuge einer Performance. Bässe pumpen aus abgerockten Ghettoblastern, dazu gibt´s Rap oder Tanzformationen zaubern für ein paar Cent die neuesten Parreo-Moves auf den rissigen Asphalt. So heißt der Tanz zum südamerikanischen Phänomen Reggaeton, einer Mischung aus spanischem Rap und aufgefetteten Reggaebeats. Medellín und sein Nachtleben sind mit Künstlern wie J. Balvin, Maluma oder Karol G echte Hochburgen dieses Sounds, der spätestens seit den 2010er Jahren auch vergnügungssüchtige Kids aus den nahen Staaten in die vielen Clubs von El Poblado lockt.

Dort, im Trendviertel am unteren, urbanen Ende von Rolltreppe und Seilbahn, hat sich in den letzten Jahren neben den Reggaeton-Discos, Tango-Clubs und hippen Boutiquen eine vibrierende Restaurantszene etabliert. Natürlich gibt es in zig traditionellen Gasthäusern wie etwa dem Mondongo´s auch die Comida Corriente, die typischerweise deftige Hausmannskost aus Medellín und der Region Antioquia. Etwa eine Bandeja Paisa, den überbordend vollen Anden-Teller mit Fleisch, Chorizo, frittierter Schweineschwarte, Spiegelei und schwarzen Bohnen, zu dem Arepas und Avocados serviert werden. Wer dann noch ein paar Glas heimisches Club-Colombia-Bier trinkt, schafft es garantiert nur noch ins Hotelbett.

Fine-Dining-Vorreiter

El Poblado steht seit 2007 aber auch für die neue Küche Medellíns. Damals eröffnete Juan Manuel Barrientos mit 23 Jahren in der Carrera 43 sein erstes Fine-Dining-Restaurant El Cielo und wurde dafür zuerst fast verlacht: „Mich haben viele Leute dafür kritisiert, dass ich Avantgarde-Cuisine kochen wollte, die von kolumbianischen Produkten und traditioneller Küche inspiriert ist. Ein Journalist schrieb sogar, das Lokal würde keinen Monat überleben.“ Heute ist Juanma, wie er in Kolumbien auch respektvoll genannt wird, mit seinem Konzept ein überaus erfolgreicher Gastrounternehmer. Er betreibt in Medellín heute viele Lokale wie das Cuon mit seiner von Asien inspirierten Küche, das Kai für Veganer oder das Agua Fresca mit mexikanischem Spin. Außerdem wurde gerade das El Cielo Hotel eröffnet und er hat mit Lokalen in Miami und Washington DC in die Vereinigten Staaten expandiert. Mit seinem El Cielo in der US-Hauptstadt hält er als erster Kolumbianer sogar einen Stern für seine Neuinterpretation der Landesküche.

Dabei setzt er zwar auf Referenzen auf traditionelle Gerichte seiner Heimat. Wenn er etwa die oben erwähnten Buñuelos mit Costeño-Käse-Füllung oder Minatur-Arepas in einem Spiegel Kichererbsensuppe als Snacks zum Auftakt seines Degustationsmenüs an den Tisch bringen lässt. Er überrascht aber auch mit Showelementen aus dem Werkzeugkasten der Molekularküche. Schäumchen und Trockeneisnebel gehören ebenso dazu wie die alle Sinne ansprechenden „Sensual Experiences“, die er in sein Menü einbaut. Die „Chocolate Therapy“ etwa, ein Hinweis auf die Tatsache, dass in Kolumbien jährlich etwa 45.000 Tonnen des besten Kakaos der Welt geerntet werden. Dafür wird dem Gast direkt am Platz geschmolzene, lauwarme Rohschokolade über die Hände gegossen und dann fein geriebener Kaffee und Zucker zu einem Peeling hinzugefügt. Das ist nicht nur sehr angenehm, sondern führt auch dazu, dass sich die Haut nach dem Abwaschen mit Wasser viel weicher anfühlt und wunderbar riecht.

Genauso wie diese Produkte von den Hängen und Hochplateaus der Anden spielen in Barrientos Menüs natürlich die tropischen Früchte und der Fischreichtum von Karibik, Pazifik und den Flüssen des Amazonas eine große Rolle. Aufgrund der überragenden Produktqualität reichen dabei nur wenige Komponenten am Teller – etwa beim Seelachs auf einem Saucenspiegel aus tropischen Früchten, der lediglich mit einem Fischhautchip und ein paar Miniaturblüten getoppt wird. So zaubert Barrientos seinen Gästen nun schon seit 15 Jahren den Geschmack eines ganzen Landes auf den Gaumen und lieferte damit gleichzeitig ein Vorbild, das mittlerweile viele andere KöchInnen inspiriert.

USA-Connection

Carmen Angel und Rob Pevitts etwa, die ihr Restaurant Carmen nur zwei Jahre nach dem El Cielo in der Carrera 36 ebenfalls in El Poblado eröffneten. Beide hatten sich in Kalifornien an der Kochschule Le Cordon Bleu de San Francisco kennen- und lieben gelernt. Carmens Vater Diego, ein erfolgreicher Entwickler von 3D-Engines für die internationale Videospielindustrie, hatte die beiden überzeugen können, mit ihm in sein Heimatland zurückzukehren. Auch das gemeinsam eröffnete Carmen Restaurant erwies sich mit seiner Mischung aus so breitem wie innovativem Cocktailangebot, urbanem Chic und durchdachter, aber immer zugänglicher Hochküche als Volltreffer. Gerichte wie das Signature „Cerdo Dos Veces“, bei dem Schweinebauch und Schweinsfilet mit einem Saft aus der tropischen Tamarindenfrucht glasiert und mit allerlei lokalem Gemüse aufgetragen werden, überzeugten Einheimische wie Touristen. Seit Jahren ist der Laden immer voll. Nur logisch, dass es mittlerweile mit dem japanisch angehauchten Moshi und dem Don Diablo weitere Spin-offs gibt, die den kulinarischen Ansatz der beiden konsequent weiterführen. Dabei zeigt vor allem das Steakhouse Don Diablo, wie viel gastronomische Entwicklungsarbeit in der neuen Heimat hinter den beiden liegt. Trotz der vielen Rinderfarmen in Kolumbien und bester Fleischqualitäten war das Don Diablo das erste Steakhouse im ganzen Land, das sich einen Reifeschrank leistete und konsequent auf einheimische, mit Gras gefütterte Fleischrassen setzt. Eigentlich unglaublich.

Neue Amazonasküche

Ein paar Häuser vom Carmen-Imperium die Straße hinauf versucht sich auch Juan Santiago Gallego im Jura Küb am Remix der originär kolumbianischen kulinarischen Identität. Er ist dabei allerdings um einiges radikaler als die beiden Zugereisten aus den USA. Denn sein Thema ist die Urwaldküche des Amazonas. Von Barrientos hat er sich dabei die Inszenierung mit Trockeneisnebeln und schwebenden Sphären abgeschaut. Bei den Produkten ist Gallego allerdings einiges mutiger. Regelmäßig begibt er sich auf ausgedehnte Reisen durch die Urwälder im Amazonas-Gebiet. Dabei lernt er durch die Kooperation mit 47 indigenen Familien immer neue Produkte und deren traditionelle Verarbeitungsmethoden kennen. Eine der Entdeckungen ist beispielsweise der Mojojoy-Wurm, den er in Medellín allabendlich in der winzigen Küche seines mit allerlei exotischen Amazonas-Memorabilia ausgestatteten Lokals bruzelt. Die Schädlinge, die vor allem Palmblätter befallen, sind etwa so lang wie ein Handteller, ziemlich fett und erzeugen noch lebend bei Europäern kaum Essenslust. Vorher mariniert und in der Pfanne oder am Spieß gebraten werden sie aber zu echten Leckerbissen, die nussig-buttrig und erstaunlich gut schmecken. Ein anderes Reisemitbringsel sind die in ganz Südamerika verbreiteten Blattschneiderameisen. Die „Hormigas culonas“ werden in der Regel geröstet, gesalzen und dann wie Nüsse geknabbert. Sie gelten in Kolumbien als absolute Delikatesse und sind deshalb relativ teuer. In der Küche des Jura Küb verwendet Juan Santiago Gallego die knusprige, leicht säuerlich schmeckende Ameisenart deshalb gerne als Würzmittel oder knuspriges Topping.

Mut müssen Medellín-Besucher heute somit nur noch beim Verzehr solch exotischer Zutaten beweisen. Und das ist wohl eines der größten Verdienste der heimischen Gastronomen – vom Standler über den Club-Betreiber bis zum internationalen Fine-Dining-Star. 

3 KONZEPTE - Medellín Megamix

1 – Jura Küb

Amazonien auf Peyote

Das Jura Küb liegt zwar in der inoffiziellen Restaurant-Meile von El Poblado, fällt von außen aber kaum auf. Dieses Understatement kehrt sich beim Betreten aber schnell um. Die Wände sind übersät mit knallbunten Murals von Fabelwesen und Tabak rauchenden Ureinwohnern. Überall hängen getrocknete Kräuter, in den Regalen steht allerlei Eingelegtes und das Schummerlicht erzeugt mystische Stimmung. Juan Santiago Gallego möchte damit auf einen kulinarischen Amazonas-Trip einstimmen, für den er sich Zutaten wie Ameisen, Würmer, Acaí-Beeren oder die Früchte der Uña de Gato direkt von dort liefern lässt. So entstehen einzigartige Gerichte, wie etwa eine Piramañola: Diese „Krokette“ wird mit einem Mehl aus der Yuca Brava paniert und ist mit Pirarucú gefüllt, eine der größten Fischarten der Welt, die allein im Amazonas vorkommt. Einzigartig.

 

2 – OCI.Mde

Design trifft Slowfood

Das Oci.Mde liegt in einer ruhigen Straße in Provenza. Dort hat Laura Londoño zusammen mit ihrem Ehemann, dem Architekten Santiago Arango, ein Lokal geschaffen, das so auch in London oder New York stehen könnte. Zeitgeistiges Interieur, super Cocktailkarte und 80ies Playlist. Wirklich herausragend macht das OCI.Mde aber die Küche Londoños. Sie wechselt die Karte alle sechs Monate und kocht ausschließlich mit regionalen und saisonalen Produkten. Dabei sind lange Garprozesse für sie essenziell. Das Rindfleisch für ihr Morrillo wird etwa zwölf Stunden geschmort, bevor es mit grünem Pfeffer aus Putumayo, Maniok-Püree und Carambolo-Salat an den Tisch kommt. Und auch ihre Ripperl garen ganze fünf Stunden, bevor sie noch mit Guandolo-Saft glasiert werden. Himmlisch.

 

3 – Hija Mia

Retter der Kaffeekultur

Was für eine Geschichte! Da packt ein Neuseeländer einfach seine La Marzocco und eine Mikrorösterei in einen Container und lässt sie 12.000 Kilometer nach Kolumbien verschiffen. In ein Land, in dem es den besten Kaffee der Welt geben sollte. Tut es aber nicht. Denn bis vor wenigen Jahren verkauften die Kolumbianer ihre besten Bohnen in die weite Welt. Nur die minderen Qualitäten blieben für den Eigenbedarf in den Kaffeehäusern Medellíns. Das wollte Shaun Murdoch ändern und gründete mit Hija Mia nicht nur eines der angesagtesten Hipster-Cafés der Stadt, sondern röstete unter gleichem Namen auch gleich seinen eigenen Kaffee. Der Erfolg gibt ihm Recht und so exportiert er seinen Kaffee mittlerweile auch in die USA. Wer sich von der Qualität überzeugen will, sollte bei ihm einen Flat White bestellen und dazu einen der hervorragenden Avocado-Toasts essen. Delicioso.

Interview

„Im Fine Dining bin ich ein Pionier.“

Juan Manuel Barrientos hat in seiner Heimatstadt mit der Verbindung von Hochküche, heimischen Zutaten und traditionellen Gerichten voll ins Schwarze getroffen. Heute ist er auch international erfolgreich und versucht die Küche Kolumbiens bekannter zu machen.

Sie haben Ihr Restaurant-Imperium sehr früh gegründet, Herr Barrientos. Wie waren Ihre Anfänge in der Küche?

Ich habe in Medellín studiert und dann viele Kurse an der Mariano-
Moreno-Schule für Gastronomie in Argentinien besucht. Mein erstes professionelles Engagement hatte ich beim dort sehr bekannten asiatischen Koch Iwao Komiyama. Danach war ich auch ein Jahr in Spanien bei Juan Mari Arzak. Mit 23 bin ich zurückgekommen und habe 2007 das El Cielo eröffnet.

In diesem Alter ist es ganz schön mutig, gleich ein Fine-Dining-Lokal zu eröffnen …

Mich haben damals auch viele Leute dafür kritisiert, dass ich Avantgarde-Cuisine kochen wollte, die von kolumbianischen Produkten und traditioneller Küche inspiriert ist. Ein Journalist schrieb sogar, das Lokal würde keinen Monat überleben. Dazu muss man wissen, dass es damals Tasting-Menüs oder ein Reservierungssystem in der Gastronomie in Medellín noch nicht gab. Ich war ein absoluter Pionier der kolumbianischen Hochküche. Heute habe ich nicht nur mehrere Restaurants, wir haben gerade auch unseren ersten Stern für das El Cielo in Washington DC besttätigt. Damit sind wir das erste Michelin-Restaurant für kolumbianische Küche überhaupt.

Was macht die Küche Kolumbiens für Sie aus?

Ihre Vielfalt. Ich würde sogar sagen, Kolumbiens Küche ist ein Juwel unter den Weltküchen, das es noch zu entdecken gilt. Wir haben insgesamt sechs Vegetationszonen vom Pazifik bis zu den Anden und mehr Obstsorten als jedes andere Land. Auch Gemüse gibt es in Hülle und Fülle. Bezüglich Qualität habe ich Vergleichbares bisher nur in Frankreich und der Bay Area rund um San Francisco gesehen. Dazu kommen die Einflüsse von Einwanderern aus aller Welt – zum Beispiel aus Afrika, aber auch aus Asien und Europa.

Wie setzen Sie diese Produkte und Kochtechniken in Ihrer Küche ein?

Die aus Kolumbien stammende Frucht Uchuva, eine spezielle Unterart der Physalis, verwenden wir zum Beispiel als Basis für unsere Ceviches. Chontaduros, die orange-weißlichen Steinfrüchte der tropischen Pfirsichpalme, servieren wir zu einem Seeigel-Snack. Wir kombinieren aber auch gerne scheinbar einfache traditionelle Gerichte wie Arepa-Buns aus weißem Maismehl mit Kaviar oder stellen Gnocchi mit Yuca-Knollen her und servieren sie mit Trüffel. Außerdem steht bei uns Cassava-Brot aus dem Amazonasgebiet auf dem Tisch und wir produzieren Petit Four aus dem Gel der Lulo-Frucht von den Küsten des Pazifik sowie der genialen Schokolade aus Santander. Die Liste ist endlos.

Hat diese Küche auch andere in Medellín inspiriert?

Heute kochen viele Köche in Medellín mit lokalen Produkten. Dabei muss man aber auch bedenken, dass das mittlerweile überall zum Trend geworden ist. Außerdem ist Medellín heute eine Stadt, die Touristen aus der ganzen Welt anzieht. Und die suchen gastronomische Erlebnisse und Erinnerungen. Ich denke, die Restaurants hatten einen großen Anteil daran, das Image der Stadt zu beeinflussen, indem sie für viele glückliche Reisende und noch mehr Social-Media-Posts sorgten. Das hat noch mehr Touristen angezogen.

Trotzdem sind viele Menschen in Kolumbien nach wie vor gezeichnet von einem langen Bürgerkrieg, Armut, Vertreibung und der Gewalt durch Drogenbosse. Sie haben deshalb sogar eine eigene Vereinigung gegründet, richtig?

Ja, die El Cielo Foundation gibt es jetzt schon 14 Jahre. Wir wollten durch unser gastronomisches Angebot auch dazu beitragen, dass die Menschen wieder zueinander finden, sich ehemalige Feinde versöhnen können und so eine neue Perspektive im Leben gewinnen. Deshalb bilden wir Soldaten, die von Landminen versehrt wurden, Ex-Guerillas, Paramilitärs, deren Opfer und vertriebene Ureinwohner zusammen in der Küche aus. Bisher konnten wir schon 1.500 Menschen eine neue berufliche Perspektive geben und den Frieden fördern.

Arbeiten diese Menschen danach auch in Ihren Restaurants?

Die meisten gehen wieder in ihre Dörfer. Aber einen Ex-Guerilla, einen versehrten Soldaten, zwei Paramilitärs und einen Vertriebenen haben wir derzeit im Team.

Ist es sonst schwierig, gutes Personal zu finden?

Eigentlich nicht. Die Kolumbianer sind sehr fleißige Menschen, die stolz auf ihre Arbeit sind. Außerdem gibt es in Medellín sehr gute Kochschulen und viele Köche motiviert der Erfolg der lokalen Gastroszene, sich auch international weiterzubilden und dann wieder zurückzukommen.

Trotzdem hat vor allem der Tourismus in den letzten zwei Jahren auch in Medellín einen herben Rückschlag erlebt. Wie sehen Sie die Zukunft?

Natürlich mussten viele Restaurants schließen. Aber es werden viele neue kommen und der Markt wird auch für internationale Ketten interessant bleiben. Wer die Krise überlebt hat, wird stärker zurückkommen. Ich bin überzeugt, dass wir kulinarisch ein einzigartiges Erlebnis anzubieten haben, das niemand so schnell kopieren kann.

Sie haben in den letzten Jahren mit zwei kolumbianischen Restaurants in die USA expandiert. Glauben Sie, dass die Welt für die Küche Kolumbiens bereit ist?  

Ich denke, die Tatsache, dass wir die beiden letzten Jahre einen Stern für unser Lokal in Washington DC bekommen haben, ist ein eindeutiger Beleg dafür. Es war immer mein Traum, der Welt mein Konzept einer kolumbianischen Haute Cuisine zu zeigen. Ich bin wirklich stolz, dass ich diesen Traum nun mit meinem Team schon in zwei amerikanischen Großstädten leben kann.

Juan Manuel Barrientos

Der 38-Jährige ist das Aushängeschild der Küche Kolumbiens. Er führt mit der El Cielo-Gruppe neun Lokale in Medellín, Bogota und den USA. Dazu ein gerade neu eröffnetes Hotel. Wer von seinen geschäftlichen Erfolgen lernen möchte, liest am besten sein Buch „La Receta del Éxito“.

 

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