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Hainoi Rising

Wenn Hanoi erwacht, hat sich ein ganzes Heer von Gastroprofis bereits mit Ware für den neuen Tag eingedeckt. Deren Frische ist eines der Geheimnisse für die großartigen Gerichte, die in der nordvietnamesischen Stadt ihren Ursprung haben. Doch die Gastroszene im Norden Vietnams ist mitten im Umbruch.

Totales Chaos. Anders kann man den Zustand nicht beschreiben, in den sich die Yên Phu Road am nördlichen Rand von Hanois Old Quarter jede Nacht gegen zwei Uhr verwandelt. Das gesamte Areal wird bis in den Morgen zu einem der größten Lebensmittelmärkte Südostasiens. Selbst zu Fuß ist während dieser Zeit kaum ein Durchkommen. Weit über die Köpfe ihrer Fahrer beladene Scooter hupen mit im Stau feststeckenden Klein-LKWs um die Wette und der Raum dazwischen ist so voll mit Menschen, dass Schubsen und sich Anbrüllen notwendig wird, um überhaupt voranzukommen. Für Chef Duyen ist ein Besuch hier für jeden Pflicht, der die Gastroszene der sechs-Millionen-Metropole ganz im Norden Vietnams verstehen will. „Am Long Bien Market decken sich Restaurants, Streetfoodstände und Hotels täglich mit Produkten ein. Wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie vielfältig die Zutaten in Nordvietnam sind und wie wichtig absolute Frische, der bekommt hier den besten Eindruck“, meint die Führerin von A Chef’s Tour.

Die lokalen Gastroprofis kaufen an einem der tausenden Stände nämlich nicht nur jene Kräutermischung aus Koriander, Shiso-Blättern und Minze, die als Standardbeilage auf die kniehohen Plastiktischchen auf Hanois rissigen Gehsteigen gestellt wird. Oder sichern sich den besten Preis für süßlich duftendes Zitronengras, das Europäer fast unausweichlich mit der vietnamesischen Aromenwelt in Verbindung bringen. Sie decken sich auch mit Spezialitäten wie großen Strandschnecken, Sandwürmern oder Wermuth-Blättern ein. Speziell Letztere verleihen den Gerichten vor Ort eine charakteristische Note, die fest zum authentischen Geschmack der nordvietnamesischen Küche gehört. „Eine ganz leichte Bitterkeit ist neben säuerlichen, scharfen, salzigen und süßen Elementen in unseren Gerichten unverzichtbar. Das lässt sich außerhalb Vietnams nur schwer auf den Teller bringen“, lächelt Chef Duyen deshalb verbindlich, als sie auf die vietnamesischen Restaurants hierzulande angesprochen wird.

Fest in Frauenhand

Auffallend ist außerdem, dass sich überproportional viele Frauen durch die Marktstraßen drängen. „Noch bis vor 25 Jahren war es üblich, dass allein sie sich ums Essen und die Lebensmittel kümmerten. Das ändert sich nun langsam. Aber in der Regel übernehmen in Gastrobetrieben noch immer Köchinnen Küche und Einkauf. Männliche Profis gibt es dagegen außer im Fine Dining kaum“, schildert Duyen und versichert: „Dass diese Köchinnen jeden einzelnen Tag der Woche auf den Markt gehen, ist extrem wichtig für Geschmack und Erfolg unserer Küche.“

Der Fokus auf bedingungslose Frische liegt auch an den Kochtechniken, die in den Straßen Hanois zum Einsatz kommen. Der Geruch von in glimmende Holzkohle tropfendem Fett begleitet Touristen auf ihren Erkundungstouren auf Schritt und Tritt und überall stehen Gasbrenner, um Öl und Wasser zu erhitzen. Öfen oder gar Kombigarer? Fehlanzeige! „Selbst Kühlschränke waren lange Zeit nicht selbstverständlich. Deswegen wird hier alles möglichst noch am gleichen Tag verarbeitet. Dieser traditionelle Zugang hat sich nie verändert“, erklärt Duyen.

Das macht Hanoi zu einer der wichtigsten Streetfood-Metropolen der Welt, in der es an jeder Ecke Ungewohntes zu entdecken gibt: Junge Frauen, die am Gehsteig sitzend Sticky Rice in Bananenblätter klatschen und hauchdünne Schnitze Mungbohnenpaste dazu schaben. Oder Congee-Stände, die im Sekundentakt fein-sämiges Reisporridge mit seinen wärmenden Umami-Aromen aus riesigen Kesseln schöpfen. Direkt hinter diesen Straßenszenen öffnet sich die kulinarische Welt der Sechs-Millionen-Stadt aber erst richtig. In vielen der schmalen Durchgänge zwischen den zerbröckelnden Fassaden französischer Kolonialarchitektur verbergen sich Innenhöfe, verwinkelte Gänge und Privatwohnungen, in denen ebenfalls Gäste bewirtet werden.

„IN HANOI WIRD ALLES MÖGLICHST NOCH AM GLEICH TAG VERARBEITET.“ (CHEF DUYEN, GUIDE & KÖCHIN, A CHEF´S TOUR, HANOI)

Die beste Pho der Stadt

In einer davon serviert Mrs. Minh von drei Uhr nachmittags bis abends um sieben eine der besten Phos der Stadt. Sie zu finden, gelingt nur wenigen. Denn unweit der Kreuzung von Hang Trong und Hang Gai weist nicht einmal ein Schild auf ihr Restaurant hin. Um es zu besuchen, müssen Gäste durch einen dunklen, maximal ein Meter breiten Gang zwischen einem Kaffeeladen und einem Souvenirshop schlüpfen und eine verfallende Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen. Oben erwarten sie dann im Wohnzimmer die allgegenwärtigen Plastikstühle und Tischchen. Einziges Gericht: Nordvietnamesische Pho, eine feine Reisnudelsuppe, die in der Provinz Nam Đinh ihren Ursprung hat. Sie besteht nur aus vier Grundzutaten: Einer klaren Rinderbrühe, Reisnudeln, Rindfleisch und einer typisch vietnamesischen Kräutermischung mit sehr vielen grob gehackten frischen Frühlingszwiebeln. Dazu ein paar zusätzliche Würzmittel, die je nach Gusto beigemengt werden, wie gehackte Chilis, Chili- oder Fisch-Sauce und ein Schälchen eingelegtes Gemüse. Fertig. Warum gerade ihre Pho so viele Besucher begeistert, will Mrs. Minh nicht herausrücken. Aber es hängt wohl damit zusammen, dass bei ihr die Rinderknochen für die Suppenbasis über 24 Stunden ausgekocht werden. Dabei schöpft sie beständig jedes noch so kleine bisschen überschüssiges Fett ab und erhält so eine Brühe, die mindestens so klar ist wie eine klassisch zubereitete Haute-Cuisine-Consommé. „Ich stand 15 Jahre mit meinem Pho-Stand an der Kreuzung unten. Trotzdem kommen die Leute, die mich gefunden haben, heute selbst aus Korea und China immer wieder, um meine Pho zu genießen – auch ohne Werbung!“, meint sie sichtlich stolz.

Koloniales Erbe

Bezüge zur französischen Küche gibt es nicht nur bei der Pho-Basisbrühe. Zwischen 1858 und 1954 war Frankreich Kolonialmacht und hat während dieser Zeit in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Kulinarik des Landes genommen. So auch beim berühmten Bánh Mi, das nicht grundlos an ein Mini-Baguette erinnert. Die Franzosen brachten ihr nationales Gebäckheiligtum schon in den 1880ern ins Land. Für die heimische Bevölkerung war es lange unleistbar. Also experimentierten die heimischen Bäcker mit einer eigenen Variante, die wesentlich kleiner ist und durch andere Zutaten und Verarbeitungsmethoden ganz eigene Charakteristika aufweist. Mini-Lokale wie das bei Touristen beliebte Bánh Mì 25 in der Hang Ca Street oder die viel authentischeren Bánh Mì P und Bánh My Trâm werben für ihren Baguette-Remix aus diesem Grund viel öfter mit der Qualität des Brotes als mit jener der Füllung. Die Kruste muss rissig sein, dünn wie Eierschalen und beim Hineinbeißen splittrig-knusprig. Im Gegensatz dazu sollte die Krume in ihrer Konsistenz an Zuckerwatte erinnern. So kann sie Fleischsaft und verschiedene andere Füllungsbestandteile perfekt aufsaugen. Paté dient meist als Basis, gepickelte Karotten, Gurkenscheiben und Koriander sowie verschiedenes gegrilltes Fleisch als Füllung. Getoppt wird dann von flinken Händen noch mit einer speziellen Sauce, die jedes Bánh-Mì-Lokal selbst entwickelt.

„Bánh-Mì-Brot selbst zu backen, ist unglaublich schwierig“, bestätigt Thomas Pagot. Der Franzose lebt mit seiner Frau Vân immer wieder zeitweise in Vietnam und hat für seinen Blog Full of Plants lange an einem Rezept gearbeitet, das auch in Europa funktioniert. „Es gibt mehrere Faktoren, auf die man achten muss und die alle miteinander zusammenhängen. Die wichtigsten sind Mehl mit sehr hohem Glutenanteil, eine leistungsstarke Knetmaschine und sehr hohe Luftfeuchtigkeit beim Backen im Ofen. Außerdem wird man auch nicht um Backhilfsmittel herumkommen“, erklärt er.

Crêpes à la Hanoi

Ähnlich schwierig ist die Zubereitung beim Streetfood-Klassiker Bánh Cuon. Dafür wird ein sehr dünnflüssiger Teig aus Reismehl auf ein Tuch gestrichen, das über einen großen Kochtopf mit kochendem Wasser gespannt ist. Um die hauchdünnen Reisfladen nach wenigen Sekunden unter dem Deckel mit einem Holzstock abziehen zu können, braucht es viel Geschick und Erfahrung. Das fertige Reisblatt wird danach auf einen umgedrehten Korb gezogen und mit einer Mischung aus Mu-Err-Pilzen und Hackfleisch gefüllt. Getoppt wird schließlich mit gerösteten, klein geschnittenen Schalotten und dazu der typische Fischsaucen-Dip Nuoc Cham mit Limette und Kräutern zum Tunken gereicht.

Wie in vielen Streetfood-Metropolen ist es auch in Hanoi so, dass die Standler ausschließlich ein Gericht zubereiten. Das ist dafür so anspruchs- und geschmackvoll, dass es zu Hause fast unmöglich gleich gut gelingen kann. Es gibt deshalb noch zig Gerichte, die es sich zu kosten lohnt. Die ganze Vielfalt der Nudelsuppen von „Bun Rieu“ über „Hu Tieu" und „Bánh Canh“ bis "Bun Bo Hue“ etwa. Oder das weite Feld der Schneckenspezialitäten, die für europäische Gaumen dann doch etwas gewöhnungsbedürftig sind.

Einer dieser Klassiker hat durch eine Episode in Anthony Bourdains Parts Unknown sogar weltweit Bekanntheit erlangt. Als US-Präsident Barack Obama 2016 Hanoi besuchte, führte ihn Bourdain in ein typisches Bun-Cha-Lokal. In diesen für Hanoi typischen Beisln werden kleine, gegrillte Frikadellen aus Schweinefleisch serviert. Sie werden mariniert, mit Karamellsauce und Schnittlauch gewürzt und in einem Gitter direkt über der Holzkohle gegrillt. Dazu gibt es Reisnudeln, vielerlei Kräuter und natürlich Nuoc-Cham-Dip.

Neuer Gastroboom

Schon damals ging es im Tischgespräch mit dem US-Präsidenten auch darum, dass sich die lokale Gastroszene zu verändern beginnt. Vietnam befindet sich mitten in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Aktuell möchte etwa Apple-Zulieferer Foxconn eine Fabrik im Land bauen. Außerdem kommen immer mehr Touristen und die Agrarprodukte von Kaffee bis Garnelen überzeugen am Weltmarkt. Damit wächst eine Mittelschicht, die von westlichen Standards träumt und gut auf die beißenden Rauchschwaden der Bun-Cha-Verkäufer verzichten kann.

Diese Entwicklung spiegelt sich einerseits in neuen Gesetzen, die beispielsweise den Verkauf von Nahrungsmitteln auf den Trottoirs untersagt. Andererseits ist das kulinarische Angebot in Hanoi heute viel internationaler als noch vor zehn Jahren. Ein plakatives Beispiel ist die Kette Pizza 4Ps, die allein sechs Restaurants in Hanoi betreibt. Gegründet wurde sie vom Japaner Yosuke Masuko, der 2008 als Angestellter einer Investmentfirma ins Land kam. Sein Konzept ist so zeitgeistig, dass es auch in Berlin, New York oder Rom funktionieren würde. Die Produkte für die Pizzen werden nachhaltig und regional erzeugt, Buratta sogar in einer eigens gegründeten vietnamesischen Großkäserei. Das Interieur ist so wertig wie insta-hip und man fährt eine konsequente Zero-Waste-Strategie. Ganz zu Beginn, im Jahr 2011, verstanden das nur die Touristen. Aber schon längst sind der Großteil der Gäste Vietnamesen.

Deren Lust auf westliche Geschmackserlebnisse wächst stetig. Und so gibt es mit dem Habakuk etwa eine Third-Wave-Hipster-Coffee-Bar und im Capella Hotel werkt Meister Hiroshi Yamaguchi am Teppanyaki-Grill seines Hibana by Koki. Für seine Kreationen hat er bei der ersten Ausgabe des Guide Michelin kürzlich sogar einen Stern bekommen. Interessanter für reisende Köche sind allerdings die vietnamesischen Restaurants, die es ebenfalls auf die prestigeträchtige Liste geschafft haben. Eines der besten darunter ist das Gia von Long und Sam Tran. Er war viele Jahre Serviceleiter in der Sternegastronomie Singapurs und sie hat sich zehn Jahre lang in den Tophäusern Melbournes ausbilden lassen. Diese Erfahrungen ließen die beiden in ein Restaurant einfließen, das in seiner Opulenz die Ästhetik der Kolonialzeit zitiert, aber kulinarisch die vietnamesische Küche auf zeitgemäßes Niveau hebt. Das zeigt sich etwa bei Gerichten wie dem gegrillten Barramundi. Dabei zitiert Tran das berühmte lokale Gericht Cha Cá. Dafür wird im Original meist Wels mit Kurkuma und Galgant mariniert, dann in einem Grillgitter direkt über Holzkohle scharf angebraten und schließlich in heißem Öl direkt am Tisch frittiert. Zum Schluss sorgt außerdem reichlich Dille in der Pfanne für eine knackig-frische Note. Tran übersetzt dieses Prozedere in die Fine-Dining-Welt, indem sie statt Wels Riesenbarsch verwendet. Dazu serviert ihr Team ein Fisch-Minze-Chimichurri, das durch leicht angekohlte Okraschoten und Knoblauch-Triebe wieder in die Geschmackswelt ihrer Heimat eingebunden wird.

Bleibt zu hoffen, dass sie mit diesem Ansatz in den nächsten Jahren noch viele Nachahmer findet. Denn Hanois Straßenküchen mögen chaotisch und improvisiert wirken, kulinarisch bieten sie Topköchen aber sicher mehr Inspiration als Sushi, Pizza und Burger.

„WIR WOLLEN DIE TYPISCHEN GESCHMÄCKER VIETNAMS AUF EINE NEUE EBENE BRINGEN.“ (SAM TRAN, CO-EIGENTÜMERIN UND CHEFKÖCHIN, GIA, HANOI)

3 Konzepte

Hanoi hoch drei

A BAN MOUNTAIN DEW

BESUCH IM BERGDORF

A ban bedeutet „Dorf“ in der Sprache der Mong, einem von mehreren Völkern, das im bergigen Nordwesten Vietnams lebt. Mit ihrem Lokal in Hanois Bezirk
Ba Dinh haben sich Pham Viet und seine Schwester Pham Kieu Duyen zur Aufgabe gemacht, die Küchen der Völker der Mong, Tay, Muong und Tai auch in der Großstadt bekannter zu machen. Dafür haben sie ihr Lokal wie ein kleines Gebirgsdorf gestaltet, durch das sogar ein Bach fließt. Außerdem beziehen sie ihre Zutaten direkt von Bauern aus den Bergen Nordvietnams. Darunter auch Schlangen-, Pferde- sowie Büffelfleisch und Igel. Daraus entstehen Gerichte wie Nom bì trâu, ein Salat mit Büffelhautstreifen inklusive Marinade aus saurem Bambuswasser, oder Nhím gác bep, geräuchertes Igelfleisch. Auch die Suppe mit eingelegten Maniok-Blättern ist ein spannendes Geschmackserlebnis.

OC DI TU

SCHNECKENWAHNSINN

Schnecken sind eine lokale Spezialität Vietnams. Es gibt auf den Märkten zig verschiedene Sorten, die meist in Brühe gegart werden oder ausgelöst in verschiedene Suppen wandern. Darunter Exemplare der gelben Apfelschnecke Pila Polita, der Tiger Moon, Shark Eye oder Canarium. In Spezialitätenrestaurants wie dem Oc Di Tu oder an Streetfoodständen werden sie meist in großen Töpfen gemeinsam gar gekocht. Das „Oc“ im Namen verweist dabei immer auf das Hauptgericht. Eine Spezialität im Oc Di Tu ist die große Melo-Melo-Schnecke, die wegen ihres schönen Gehäuses bei uns Melonen- oder Zebraschnecke genannt wird. Sie wird in dem kleinen Seafood-Restaurant über dem Grill gegart, bis sie weich ist, und dann mit Jungzwiebeln und frittiertem Knoblauch serviert.

T. U. N. G.

FINE-DINING-VORREITER

T. U. N. G. steht für „twisted, unique, natural and gastronomic“ und soll die Philosophie von Eigentümer und Chefkoch Hoang Tung auf den Punkt bringen. Der junge Hanoianer hat schon mehrere Stationen in skandinavischen Tophäusern hinter sich. Aus dieser Erfahrung heraus ist für sein erstes eigenes Restaurant seit 2018 ein radikaler New Nordic meets Vietnam-Ansatz entstanden, den man mitten in Hanoi gleich beim Hoan Kiem Lake nie erwarten würde. So verzichtet Tungs Team etwa auf Butter und Sahne. Stattdessen werden allerlei fermentierte Säfte, Joghurt und Gin verwendet. Außerdem kocht er natürlich extrem saisonal und mit regionalen Produkten. Bestes Beispiel für diesen Ansatz ist Tungs Tach Pho. Dafür wird die kalte Brühe geliert, in eine hauchdünne Schicht von acht mal acht Zentimetern gegossen und dann auf ebenso dünne Schichten aus Kobe-Beef, Nudeln und fermentierter Chili-Sauce gelegt. Beeindruckend.

Interview

„Hanoi wird Weltoffener.“

Carl Fairchild betreibt als Amerikaner eine deutsche Kneipe in Hanoi. Wie es dazu kam und inwiefern sich die Gastroszene mit den Jahren verändert hat, schildert er im Interview.

 

Wie bist du mit deiner Kneipe in Hanoi gelandet, Carl?

Ich war 15 Jahre als Soldat in Deutschland stationiert und habe dort meine Ex-Frau kennengelernt. Wir hatten sogar ein Haus etwa 50 Minuten von Frankfurt entfernt. Damals habe ich die deutsche Bierkultur und die Kneipen kennengelernt. Am Anfang konnte ich zwar noch kein Deutsch, aber das hat sich schnell geändert. Heute fragen manche meiner neuen Gäste, woher in Deutschland ich eigentlich komme? Für mich ist das noch immer ein großes Kompliment.

Warum bist du nicht geblieben?

Meine Frau hat einen Job bei der deutschen Botschaft in Hanoi angenommen, also bin ich mitgekommen. Das ist jetzt schon fast 20 Jahre her.

Deine Kneipe gibt es mittlerweile auch schon fast sieben Jahre. Erzähl ein wenig zum Konzept. Und warum heißt sie eigentlich THE Kneipe?

Im Englischen hat „Die“ ja eine ganz andere Bedeutung und ich wollte nicht, dass das Konzept als „DIE Kneipe“ gleich zu Beginn zum Sterben verdammt ist. (lacht) Aber im Ernst: Wir haben natürlich sehr viele internationale Gäste von Botschaften und generell Expats, weil hier im Viertel Tay Ho auch viele ihre Wohnungen haben. Da schien mir der englische Artikel sinnvoller, auch wegen meiner eigenen Lebensgeschichte und für unsere vietnamesischen Gäste. Sonst wollen wir mit unserem Laden die typisch deutsche Kneipenstimmung vermitteln. Nur sind wir viel moderner eingerichtet als die meisten Gasthäuser in Deutschland. Sonst würden die Gäste auch nicht kommen. Speziell ist außerdem, dass bei uns regelmäßig Live-Bands auftreten und für Stimmung sorgen. Das hat all die Jahre sehr gut funktioniert.

Mögen deine vietnamesischen Gäste deutsches Essen?

Eher deutsches Bier. (lacht) Die Einheimischen essen bei mir weniger Schnitzel, weil ihnen die Panade nicht schmeckt. Bratwurst oder Jägerschnitzel mögen sie dagegen gern. Trotzdem ist unser Verkaufsschlager klassisches Schnitzel. Das zeigt auch, wie hoch der Expat-Anteil bei uns ist. Darunter sind nicht nur Deutsche, sondern eigentlich Gäste von überall her.  

Ich habe gehört, dass in Vietnam sehr viel selbstgebrautes Bier ausgeschenkt wird. Stimmt das?

Hanoi oder Tiger Beer sind beispielsweise lokale Brauereien, aber es gibt auch viele Kleinstbrauereien, die das Bier direkt aus Plastikschläuchen ausschenken. Ein deutscher Freund und ich haben das zum Anlass genommen, selbst hochqualitatives Bier zu brauen. Dafür lassen wir uns Hopfen und Zutaten sogar direkt aus Deutschland liefern, eine echte Brauerei ist gerade in Planung.

Was kostet eine Flasche Bier hier in Hanoi eigentlich?

Bei mir kostet importiertes Bier vom Hofbräuhaus, Carlsberg oder Saporo aus Japan zwischen zwei und vier US-Dollar. Selbstgebrautes auf der Straße ist natürlich wesentlich billiger.

Und die Speisen?

Für unsere Schnitzel-Combo mit Bratkartoffeln kann ich rund zehn US-Dollar verlangen. Aber das Essen an den Streetfood-Ständen ist auch in diesem Fall wesentlich günstiger. Zwei gut gefüllte Schalen Pho bekommt man für nicht einmal vier Dollar und eine Schüssel Bun Cha gibt´s manchmal schon für einen Dollar. Diese Preise sind auch deshalb möglich, weil es noch immer so viele Straßenstände gibt. Die Besitzerinnen schieben morgens um sechs ein kleines Wägelchen auf den Gehsteig oder in die Durchgänge zwischen den Wohnhäusern und verkaufen ihre Gerichte, bis sie keine Zutaten mehr haben. Wenn sie um 15 Uhr ausverkauft sind, packen sie den Wagen wieder ein. Sie sparen sich dadurch Pacht und Personal komplett.

Bereitet dir diese Konkurrenz nicht Probleme?

Durch unser spezielles Konzept und unseren Standort zum Glück nicht. Vietnam befindet sich mitten in einem Wirtschaftsboom und es entwickelt sich dadurch eine immer größere Mittelschicht, die auch kulinarisch Neues ausprobieren möchte. Mittlerweile gibt es in Hanoi Lokalkonzepte aus der ganzen Welt. Wir hier im Stadtteil Tay Ho profitieren auch davon. Als ich vor 19 Jahren herkam, gab es überhaupt keine Restaurants. Und als ich The Kneipe eröffnet habe, waren auf unserer Straße vielleicht zwei oder drei Restaurants. Und jetzt gibt es auf der Hauptstraße kein einziges Haus ohne Gastrobetrieb. Das zeigt auch, wie stark die Gastro hier wächst.

Hat diesen Aufschwung Covid nicht etwas gebremst?

Nicht hier in Hanoi. Ich hatte auch eine Kneipe im Touristenort Da Nang. Die musste ich für immer zusperren. Aber hier war immer genug Nachfrage und mittlerweile sind auch die Touristen zurück. Aus Australien und Indien kommen momentan die meisten. Deswegen gibt es auch so viele neue indische Restaurants.

Können Ausländer einfach so ein Restaurant aufsperren?

Eigentlich nicht. Man braucht immer einen lokalen Partner. In meinem Fall war das meine vietnamesische Frau. Nur sehr große Unternehmen können auch ohne einheimische Beteiligung im Land investieren.

Und wie war es, Mitarbeiter zu finden? Das ist sicher eine weitere Hürde, oder?

Es gibt hier ganz wenige gut ausgebildete Köchinnen und Köche. Nur die großen Hotels bilden selbst aus und können so einen gewissen Standard bei internationaler Küche garantieren. Für mich bedeutet das, dass ich mein Küchenpersonal selbst einschulen muss. Dafür sind die Kosten aber niedriger als in Deutschland oder Österreich. Eine einfache Küchenkraft verdient ca. 500 Dollar im Monat. Gute Mitarbeiter zu finden, ist hier aktuell allerdings genauso schwierig wie überall.

Carl, vielen Dank für das
Gespräch!

 

Carl Fairchild

Der ehemalige US-Soldat kam Anfang der 2000er nach Vietnam und führt in Hanoi seit 2015 eine deutsche Kneipe. Außerdem ist er mit Fair Real Estate im Immobiliensektor aktiv und vertreibt den italienischen Mokabar Espresso in Vietnam. Neuestes Projekt ist eine deutsche Bierbrauerei, die bald eröffnen soll.

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