Vertical Video Pioniere

Die Britin Poppy O‘Toole wollte schon immer als Köchin hoch hinaus, aber TikTok stand nicht auf ihrem Plan. „Ich absolvierte meine Ausbildung bei Purnell’s, einem Michelin-Restaurant in Birmingham.“ Danach ging sie nach London und machte dort Karriere in einem Top-Restaurant, bis die Pandemie über Großbritannien hereinbrach und sie wie so viele andere Kollegen gekündigt wurde. „Ich wohnte plötzlich wieder zuhause und es gab auch keine Chance auf einen neuen Job.“ In dieser Zeit lernte sie durch ihre beiden jüngeren Geschwister TikTok kennen und aus einem Spaß heraus begann sie 2020 ihre ersten Rezeptvideos zu posten. „Dann kam dieses Kartoffelvideo“, erzählt Poppy O‘Toole, „ich hatte mir zum Abendessen knusprige Kartoffelwürfel mit Parmesan und Petersilie gemacht und das auch gleich als Video gepostet. Ich hoffte auf ein paar tausend Likes, aber am nächsten Tag hatten eine Million Menschen dieses Video gesehen, das war unglaublich. Als ich gleich darauf noch ein Kartoffelrezept postete, sahen es wieder mehr als eine Million. Mir war klar, die Menschen lieben Kartoffeln, und so startete ich im November 2020 während des dritten Lockdowns die Serie ‚25 Tage Kartoffeln‘ mit ebenso vielen Rezeptvorschlägen. Das war der Durchbruch, die Zahl meiner Follower knackte die Million und seitdem trage ich stolz den Beinamen Kartoffelkönigin“, lacht die sympathische Britin.

Danach ging es Schlag auf Schlag. Der Bloomsbury-Verlag wurde auf die Kartoffelvideos von Poppy O‘Toole aufmerksam und bot ihr an, ein Kochbuch zu schreiben. Bald darauf kam die Anfrage, ob sie als Jurorin in der neuen BBC-TV-Show Young Master Chefs dabei sein möchte. Und kürzlich ist jetzt noch ihr zweites Kochbuch erschienen. Trotz dieses enormen Erfolgs ist und bleibt TikTok ihr wichtigster Kommunikationskanal. In ihren Videos trägt sie unverändert eine weiße Kochjacke, kocht besonders gerne mit Kartoffeln und verkostet am Ende ihr Gericht. Die Clips dauern selten länger als 45 Sekunden, als Location dient ihr eine kleine Küche, die einzelnen Sequenzen werden schnell geschnitten. Wer hier detaillierte Rezeptangaben sucht, sollte sich lieber eines ihrer Kochbücher besorgen, auf TikTok geht es mehr um Entertainment und Inspiration als um Gramm und Milliliter. „Früher in der Gastronomie habe ich so gekocht, wie es mir andere gesagt haben. Jetzt, in meinen Videos, probiere ich eigene Kreationen aus, koche mit meinem eigenen Stil und nach meinen persönlichen Vorstellungen. Diese Freiheit hat eine ganz neue Leidenschaft fürs Kochen in mir entfacht.“

Die Leidenschaft fürs Kochen steckt auch in Eitan Bernath, dem erst 20-jährigen TikTok-Überflieger aus Manhattan. Er ist das beste Beispiel dafür, dass man kein Spitzenkoch sein muss, um mit Kochvideos auf Social-Media-Plattformen erfolgreich zu sein. Streng genommen ist Eitan Bernath überhaupt kein Koch, denn er hat keine der klassischen Ausbildungen absolviert. Dafür kocht er aber schon seit seiner frühesten Kindheit, nahm mit zwölf Jahren an der Kinderversion der US-Kochshow Chopped teil und ist seitdem als ambitionierter Hobbykoch auf digitalen Plattformen zu finden. „Ich habe damals neben der Schule begonnen, meine kulinarische Entwicklung auf Facebook und YouTube zu dokumentieren. Schon bald folgten mir über 100.000 Menschen und ich begann, mit Werbung auf meinen Accounts Geld zu verdienen.“ Seit er 2019 seinen TikTok-Account startete, wuchs die Fanschar dramatisch an. Eitan Bernath schmiss die High School und widmete sich voll und ganz seinen Kochvideos. Heute folgen ihm über zwei Millionen Menschen, seine Clips wurden über 66 Millionen Mal geliked. 

So ganz nebenbei kocht er auch regelmäßig in der TV-Show von Hollywood-Star Drew Barrymore, betätigt sich karitativ und hat auch noch Zeit gefunden, sein eigenes Kochbuch zu veröffentlichen. Das Wichtigste in seinen TikTok-Videos ist der Spaßfaktor. „Ich liebe es, die Menschen zu unterhalten“, sagt Eitan Bernath. Dafür lädt er sich öfters mal Freunde in seine Videos ein und kocht mit ihnen gemeinsam. Da wird dann auch kräftig gekleckert und herzhaft gelacht. Die Rezepte sind nicht anspruchsvoll, aber das spielt für seine Follower keine Rolle. Beim Scrollen durch die unzähligen Videos suchen sie nicht nach einem Rezept für den ultimativen Snack oder das perfekte Candlelight-Dinner. Nein, sie wollen einfach gut unterhalten werden. Das ist auch Eitan Bernath bewusst, darum lädt er zwischendurch auch immer Videos hoch, in denen er seinen vorwiegend jungen Followern Wissenswertes über Lebensmittel erzählt. Quasi Bildungsfernsehen für die TikTok-Generation.

Gute Unterhaltung, das bieten definitiv auch die Videos von Ruben Bondi. Der 26-jährige Italiener hat sich dafür etwas ganz Besonderes einfallen lassen – er kocht auf dem Balkon seiner Eltern, mitten im römischen Stadtteil Trastevere. Begonnen hat alles, wie könnte es anders sein, während der Pandemie. Als er wegen Renovierungsarbeiten in seinem Haus gerade kurzfristig bei seinen Eltern wohnen musste, infizierte er sich mit dem Corona-Virus. Daraufhin waren alle in Quarantäne und so begann er kurzerhand, mit einem Schneidbrett, einem kleinen Camping-Gaskocher und einer Pfanne auf dem Balkon zu kochen und sich dabei zu filmen. Bald fragte er auch die Nachbarn und zufällig auf der Straße vorbeigehende Passanten, ob sie Essenswünsche hätten. Das war natürlich sehr originell und so wurden immer mehr Leute auf den Koch am Balkon aufmerksam.

Sein kulinarisches Handwerk hat der junge Römer im Michelin-Restaurant Il Pagliaccio gelernt, danach ging er nach London und kochte im Fünf-Sterne-Hotel The Ned. Seit mittlerweile vier Jahren lebt Ruben Bondi wieder in Rom und kocht für Leute, die ihn für private Dining-Events buchen. Aber dafür hat er immer weniger Zeit, denn sein Cucina con Ruben-Account auf TikTok zählt heute fast 2,5 Millionen Follower. Die wollen natürlich ständig mit neuen Videos unterhalten werden. Also kocht Ruben Bondi hauptsächlich mit dem Gaskocher auf dem Balkon seiner Eltern. Ganz oft sind seine jüngere Schwester, Freunde und Verwandte sowie deren Kinder mit dabei, wenn er den Kochlöffel schwingt. Auf dem Menüplan stehen hauptsächlich Gerichte der italienischen Küche, denn dem Profi-Koch ist es wichtig, die kulinarische Tradition Italiens weiterzugeben. Die detaillierten Rezepte dazu finden seine Fans in seinem vor kurzem erschienenen Kochbuch. Neben der Erstellung neuer TikTok-Videos investiert Ruben Bondi momentan auch viel Zeit, um seinen großen Traum von einer eigenen TV-Kochshow zu realisieren.

Hart dafür zu arbeiten, um seine Träume verwirklichen zu können, das kennt auch Toni Chapman. Die  junge Amerikanerin mit afro-lateinamerikanischen Wurzeln wuchs nur mit ihrem Vater in sehr bescheidenen Verhältnissen in New Jersey auf. „Früh wurde mir klar, dass es viel Konzentration und Disziplin braucht, um Erfolg zu haben“, sagt sie heute. Seit ihrem 6. Lebensjahr kocht Toni Chapman und je älter sie wurde, umso stärker wuchs die Lust, kreativ zu sein, Neues auszuprobieren und auch andere mit ihren Gerichten zu begeistern. „Also gründete ich kurzerhand Tonicooks, ein Unternehmen für Essenszubereitung und Lieferung in NYC.“ Der Erfolg währte nicht lange, die Pandemie machte auch vor Amerika nicht Halt. Toni Chapman ließ sich aber nicht entmutigen und begann nebenbei als themoodyfoody kurze Kochvideos auf TikTok und Instagram zu veröffentlichen. Darin kocht sie hauptsächlich karibische, hispanische und afrikanische Gerichte, mit denen sie als kleines Mädchen groß geworden ist. Die Speisen und vor allem Toni Chapmans sympathische und fröhliche Art kamen bei den Followern extrem gut an. Es dauerte nicht lange, da klopfte das internationale Newsportal Buzzfeed an, um Toni Chapman als Content-Creator für sein Kochportal Tasty zu gewinnen. „Meine Aufgabe war es, Gerichte zu entwickeln und die entsprechenden Videos für die Plattform zu produzieren. Das war ein enormer Push für meine Karriere. Ich bekam so viel gutes und herzliches Feedback, das war überwältigend und hat mir das Selbstvertrauen und den Mut gegeben, mich voll und ganz auf meinen themoodyfoody-Account zu konzentrieren.“ Seitdem hat sie einige Partnerschaften mit großen Marken aus der Lebensmittelbranche abgeschlossen, ihr Unternehmen Tonicooks wieder in die Erfolgsspur gebracht und vor ein paar Wochen auch eine eigene kostenlose Website mit all ihren Rezepten veröffentlicht. „Ich sehe es als meine Aufgabe, den Menschen das Kochen mit Leichtigkeit beizubringen. Ich will ihnen zeigen, wie man effizient und zeitsparend kocht, auch so aufwendige Gerichte wie aus der karibischen, hispanischen oder afrikanischen Küche. Das macht mich glücklich“, lacht Toni Chapman, „und meine Follower offensichtlich auch.“  

Ob es ihm wichtig ist, dass auch seine Follower glücklich sind? Matty Matheson zieht die rechte Augenbraue hoch und antwortet mit einem gepflegten „F***“. „Keine Ahnung, wichtig ist nur, dass sie mich lieben“, grinst der Kanadier. Ja, seine Attitude ist sein Markenzeichen. Er trägt sein Herz auf der Zunge, dazu reichlich Tattoos auf der Haut und sein Lieblingsgericht ist Fleisch, im Allgemeinen wie auch im Speziellen. Wer jetzt meint, dass seien nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um erfolgreich zu sein, wird von ihm eines Besseren belehrt. Der Schulabbrecher Matty Matheson ist ausgebildeter Chefkoch, besitzt zehn Restaurants in Toronto, ist seit 2016 mit eigenen Kochsendungen im kanadischen TV zu sehen, zählt hunderttausende Fans auf seinen Social-Media-Accounts, verkauft seine eigenen Kochbücher und eine Kochutensilien-Linie und so ganz nebenbei ist er Co-Producer und einer der Stars in einer kanadischen TV-Serie über ein Burgerrestaurant. 

Matty Matheson ist ein Workaholic. Und einer, der weiß, wie er sich von der breiten Masse abhebt. Während andere vor der Kamera extra lieb und freundlich posen, setzt er auf geballte Authentizität. Er ist, wie er ist. Matty Matheson, das Original. In seinen Videos fluten schon mal ein paar Kraftausdrücke das Mikrofon, aber das nimmt dem Kanadier niemand übel. Denn hinter seinem Rocker-Look steckt eine große Portion Charme und seine Leidenschaft fürs Kochen und für gutes Essen überstrahlt einfach alles. Auch dass seine Rezepte mitunter wild sind und die Form der Präsentation nicht immer ästhetisch, kümmert keinen. Das, was man sieht, ist ehrliches Kochen. Und genau dafür lieben die Menschen Matty Matheson.

Eine ganz andere Form der Kochvideos zeigt der japanische TikToker Bayashi. Hier wird nicht gesprochen und schon gar nicht geflucht, zu hören gibt es ausschließlich die Geräusche, die bei der Zubereitung seiner Gerichte entstehen. Dieser Video-Stil wird als ASMR bezeichnet. Die Abkürzung steht für Autonomous Sensory Meridian Response und bezeichnet das entspannende, beruhigende Gefühl, das sich beim Ansehen auf den ganzen Körper ausbreitet. Bayashi hat diese Form für seine Videos gewählt, weil er anfangs sehr schüchtern war und sich nicht zugetraut hatte, sich selbst zu filmen und dabei auch noch locker zu plaudern. „Aber bei ASMR war ich mir sicher, dass ich das schaffen kann“, erzählt der Japaner. In seinen Videos steht er immer vor einem schwarzen Hintergrund, trägt ein schwarzes Shirt und eine schwarze Baseballkappe. Was sonst noch auffällt? Sein breites Lachen! „In meinen ersten Videos war ich noch sehr unsicher, aber als immer mehr User meinten, sie fänden mein Lächeln sympathisch, half mir das, mich vor der Kamera zu öffnen und dynamischer zu werden.“

Bevor Bayashi zum TikTok-Star wurde, war er Personal Trainer. Aber das Unternehmen, für das er arbeitete, ging in Konkurs und er beschloss, es als TikToker zu versuchen. „Mein Ziel war es, mit meinen Videos viel Aufsehen zu erregen. Weil ich mich als Personal Trainer natürlich viel mit Ernährung beschäftigt habe und immer wenig Kohlenhydrate zu mir nehme, wollte ich das auch in meinen Videos so umsetzen. Darum habe ich voll auf Fleisch, Käse und Eier gesetzt. Diese Zutaten sind in Japan extrem beliebt, Eigelb wird auch gerne roh gegessen. Das ist für Europäer ungewöhnlich, aber bei uns ganz normal.“ Das Kochen hat er sich selbst beigebracht, seine Rezepte sind einfach und trotzdem begeistert er mit seinen Videos über 50 Millionen Follower. „Ich sehe meine Videos nicht als klassische Kochanleitung, sondern viel eher als Food-Entertainment.“ Die genauen Rezepturen und Anleitungen finden seine Fans in seinem Kochbuch und wenn sein Plan hält, können sie seine Gerichte auch schon bald bei seinem eigenen Bayashi-Lieferservice bestellen. 

Wer es Bayashi und den anderen nachmachen und auf TikTok erfolgreich sein möchte, sollte sich nicht unvorbereitet in den Video-Dreh stürzen. Je mehr Beispiele man sich ansieht, umso ein besseres Gespür bekommt man dafür, worauf man beim Videodreh achten muss, welche Themen gefragt sind und wie man sich am besten inszeniert. Das gilt für Einzelpersonen genauso wie für Restaurants. Als Faustregel gilt: Je einzigartiger und unterhaltsamer, umso besser. Also gleich mal recherchieren, Videokonzept erstellen und dann kann es schon losgehen: … und Action!