

Panorama
Plastic Dreams
Im Londoner Japan House widmet sich aktuell erstmals in Europa eine Ausstellung dem Kunsthandwerk der Sanpuru-Erzeugung. Diese hyper-realistischen Nachbildungen von Gerichten sind ein einzigartiges, kulturelles Phänomen, mit dem fast ausschließlich Restaurants in Japan um Laufkundschaft werben.
Hierzulande ist es kaum vorstellbar, aber in Japan gehören die gläsernen Schaukästen mit detaillierten Darstellungen von Essbarem in Vinylharz zum Alltag in jeder größeren Stadt. Sehr viele Gastrobetriebe bewerben damit nach wie vor ihr Angebot und versuchen so, Gäste anzulocken. „Für Japaner ist es äußerst unangenehm, in ein Restaurant zu gehen und es wieder zu verlassen, wenn Preis oder Angebot ihnen nicht entsprechen“, erklärt dazu Iwasaki Tsuyoshi, Präsident der Iwasaki Group, einem der ältesten Hersteller der sogenannten Shokuhin Sanpuru. „Die Replikas übernehmen deshalb die wichtige Funktion, Gästen eine gewisse Sicherheit im Hinblick auf das Angebot eines Restaurants zu geben“, erklärt er. Dazu käme laut Tsuyoshi noch, dass die auffällig gestalteten Schaukästen Laufkundschaft auf ein Lokal aufmerksam machen, die übertrieben gschmackigen Darstellungen den Appetit anregen und es zudem Spaß mache, sich ohne Entscheidungsdruck ein Gericht auszusuchen.
Der Großvater des heutigen Iwasaki-Chefs war in den 1930er Jahren einer der Pioniere im Bereich Essensnachbildungen. Damals entstanden in Japan die ersten großen Warenhäuser, die auch westliches Essen servierten, sogenanntes „yoshoku“. „Japan war bis 1868 fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten“, erzählt dazu Tsuyoshi: „Das führte einerseits zu einer großen Vielfalt regionaler Gerichte innerhalb Japans. Aber auch zu einer von viel Vorsicht geprägten wachsenden Neugier auf westliches Essen.“ Als 1923 das Shirokiya-Kaufhaus in Tokio eröffnete, ließen seine Manager deshalb vor dessen Restaurant die Nachbildungen der westlichen Gerichte zeigen, die im Speisesaal serviert wurden. Die Gäste wählten aus den Nachbildungen ein Gericht aus, kauften eine Essensmarke und konnten es schließlich innen probieren. Dieses neue Konzept war so erfolgreich, dass es zuerst von anderen Kaufhäusern und später selbst von den japanischen Restaurants kopiert wurde.




„BEI DEN FARBMISCHUNGEN GEHT JEDER HANDWERKER EIGENE WEGE.“ (MINA DESETTE, SANPURU-SPEZIALISTIN, SANPURU KOBO, GUJO HACHIMAN)


Perfekte Massarbeit
Ein großes Glück für Iwasaki Takizo (1895–1965), dem es 1932 gelang, ein Wachs-Omelett so realistisch aussehen zu lassen, dass bald alle, die sich Sanpuru für ihr Lokal anschaffen wollten, bei ihm kauften. Das Besondere seiner Geschäftsidee: Sanpuru sind auch heute keine Massenware. Die Replikas werden in kleinen Produktionsstätten auf Bestellung produziert und sollen die Gerichte der Kunden so exakt wie möglich abbilden. Dafür werden aus zugeschickten echten Gerichtbestandteilen zuerst Silikon-Formen hergestellt, dann meist mit Vinylharz ausgegossen, bearbeitet, bemalt und schließlich die Gerichte zusammengestellt. Ein Prozess, der dem Kochen selbst sehr ähnlich ist.



„DIE REPLIKAS GEBEN GÄSTEN IM HINBLICK AUF DAS ANGEBOT EINE GEWISSE SICHERHEIT.“ (IWASAKI TSUYOSHI, PRÄSIDENT, IWASAKI GROUP, TOKIO)
Ziel Überhöhung
Für maximale Realitätstreue müssen die Sanpuru-Handwerker sehr geschickt sein und lange üben – vor allem wenn es um die korrekte Wiedergabe von Textur und Farben geht. Denn detailgetreuer Realismus allein ist nicht alles. Darüber hinaus wird versucht, beim Gast die Vorstellung davon anzusprechen, wie ein Produkt im Idealfall beschaffen sein muss. Etwa, indem die Farbe einer Frucht so überhöht wird, dass sie den perfekten Reifegrad visuell vermittelt. Oder der Glanz eines Fisches absolute Fangfrische suggeriert und schon beim Anblick Meeresaroma an den Gaumen zaubert. Kurz: Der Hyper-Realismus soll die Vorstellungskraft des Betrachters kitzeln und dadurch Verlangen erzeugen.
Wie das gelingt, erklärt im Rahmen der Ausstellung Sanpuru-Spezialistin Mina Desette am Beispiel einer Himbeere. „Es dauert etwa zehn Jahre, bis man alle nötigen Fähigkeiten erlernt hat, ein solches Produkt perfekt herzustellen. Die schwierigste bleibt dabei die Farbe“, meint sie. „Die Farben von Lebensmitteln sind nirgends genau definiert und ändern sich mit dem Reifegrad. Farbentscheidungen sind deshalb rein subjektiv und jeder Handwerker geht dabei andere Wege. Eine reife Himbeere zeichnet beispielsweise ein dunkles Rot aus. Manche Menschen mögen ihre Himbeeren aber lieber etwas sauer, dafür müssen die äußersten Beeren ganz leicht ins gelbliche gehen“, macht sie ihren Punkt deutlich. „Wir haben auch Angestellte in der Firma, die frittiertes Hühnchen superknusprig machen, und andere, die eine etwas weichere Variante herstellen. Jeder Handwerker drückt in seinen Arbeiten also auch aus, welchen Geschmack er oder sein Auftraggeber bevorzugt.“
Wer hätte gedacht, dass Plastik-Essen so viel über Kultur, Arbeitsethos und Ästhetik aussagen kann!



„SANPURU SIND KEINE MASSENWARE. SIE WERDEN GENAU NACH WUNSCH HERGESTELLT.“ (IWASAKI TSUYOSHI, PRÄSIDENT, IWASAKI GROUP, TOKIO)

Bryce Gilmore setzt in seinem Barley Swine voll auf regionale Produkte, starke Aromen und Tex-Mex-Einflüsse.

Die zarten vegetarischen Teller von Je Wallerstein im Fabrik fallen in Austin schon etwas aus dem Rahmen.

Im Hestia kochen Kevin Fink und Tavel Bristol-Joseph auf einem mächtigen Holzfeuerherd Gerichte auf Sterneniveau.
„DIE REPLIKAS GEBEN GÄSTEN IM HINBLICK AUF DAS ANGEBOT EINE GEWISSE SICHERHEIT.“ (IWASAKI TSUYOSHI, PRÄSIDENT, IWASAKI GROUP, TOKIO)


